Philatelie einer turbulenten Zeit

Philatelie einer turbulenten Zeit

Die zwei revolutionierenden Bände von Bernd Klemm zur Geschichte der deutschen Inflations-Briefmarken wurden von Spezialsammlern wie auch Posthistorikern gleichermaßen begeistert aufgenommen. Nach nur eineinhalb Jahren kann der Autor nunmehr den abschließenden dritten Band der Trilogie vorlegen. Aufgrund des durch die Fülle an Informationen bedingten großen Umfangs erscheint die Ausgabe in zwei Teilen. Gegenstand ist diesmal der zweifelsohne interessanteste Abschnitt dieser turbulenten Periode der deutschen Geschichte nach dem Ersten Weltkrieg, nämlich die Phase der Hoch- und Hyperinflation ab 1922 mit ihren 18 Portoperioden bis hin zum Übergang zur Rentenmark.
Wieder stützt sich der Autor bei seinen Ausführungen auf Informationen „aus erster Hand“, vorgefunden in den im Bundesarchiv in Berlin fast vollständig erhaltenen Akten des Reichspostministeriums (RPM) aus der Inflationszeit. Lange Zeit lagerten die betreffenden Ordner unzugänglich in Archiven der DDR. Klemm wertete in monatelanger Recherche Tausende von Seiten aus und weiß nun mit Erkenntnissen aufzuwarten, die viele bisherige Annahmen als bloße Vermutungen entlarven bzw. Prozesse in ein völlig neues Licht stellen. Das gilt etwa für die Entstehung und Herstellung der sogenannten „OPD-Drucke“. Sein besonderes Interesse gilt durchgängig dem bislang kaum beachteten „zeitgenössischen Kontext – Politik, Drucktechnik, Versorgungslage bei den Postwertzeichen“.

Auf Probleme nicht vorbereitet

In den „zeitgenössischen Kontext“ gehört beispielsweise die Tatsache, dass man drucktechnisch „auf die Bewältigung der sich aus der Hyperinflation ergebenden Probleme gar nicht vorbereitet war“ und die Reichsdruckerei trotz Arbeit in drei Schichten dem Briefmarkenbedarf der Bevölkerung nicht nachkommen konnte. Nur schwer zu prognostizieren waren Währungsentwicklungen, die die Herstellung neuer Wertzeichen in immer kürzeren Zeitabständen erforderlich machten und die Reichspost schließlich in eine prekäre finanzielle Schieflage brachten. Zudem konnte sie erst ab Mitte August in eigener Regie über Portoerhöhungen entscheiden, denn bis dahin war sie von der Zustimmung beider Parlamentskammern abhängig.

Kapitel I behandelt die Briefmarkenplanung im Zeitraum Januar bis September 1922, die mit einer bis dahin beispiellosen Portoerhöhung von 200 Prozent und mehr zum 1. Januar 1922 begann, und schildert die daraus resultierenden Probleme. Kapitel II wendet sich den Monaten Oktober 1922 bis Juli 1923 zu mit den Portoperioden 9 bis 13, als das Porto für den Fernbrief stufenweise von 3 auf 100 Mark stieg. Bei vergleichsweise wenig Barfrankaturen wurde jetzt vor allem auf die kleinen Markwerte der Vorgängerperioden zurückgegriffen. Mit Kapitel III rückt der Beginn der Hochinflationskrise ab Mitte August 1923 in den Blickpunkt.

 

Not- und Zwangsbelieferung

Die Einnahmen aus dem Markenverkauf deckten zu diesem Zeitpunkt gerade noch 12 Prozent der Ausgaben der Reichspost. Das führte zu einem System von Not- und Zwangsbelieferung: im Abstand von circa zehn Tagen erhielten einige Oberpostkassen zur Versorgung großer Postämter alle täglich hergestellten Briefmarken. Flächendeckende Barfreimachung war vorübergehend die Lösung, die Folge „lange Schlangen unzufriedener, wütender Menschen“ an den Schaltern. Schließlich ging man zum sogenannten „Zweidruckverfahren“ über: Mit Hilfe alter Druckplatten hergestellte Marken erhielten in einem zweiten Druckgang ihren Wertaufdruck.
Die Geschichte und Herstellung der OPD-Drucke verfolgt Kapitel IV. Zumindest vorübergehend sicherten diese Postwertzeichen die Versorgung der Bevölkerung. Die Rosettenmarken sind Thema des nächsten Kapitels mit eingehender Schilderung der einzelnen Stadien der Planung, Herstellung und Auslieferung. Die Reichsdruckerei steigerte ihre Tagesproduktion von 250000 Bogen in Normalzeiten auf eine Million Bogen am Ende der Hochinflation. Das Kapitel endet „mit einer ausführlichen Darstellung des ,Wunders‘ der Rentenmark“, deren politische und wirtschaftliche Aspekte in allen Darstellungen in der bisherigen philatelistischen Literatur zur Briefmarkengeschichte meist zu kurz kommen“. Im abschließenden sechsten Kapitel geht es um die „Aufräumarbeiten“ nach Ende der Inflation: Riesige Vorräte an fertigen und halbfertigen Bogen – allein neun Mill. in der Reichsdruckerei und noch mehr in den OPDen – warteten auf ihre Abwicklung
Klemm gelingt es, dem Leser die Schwierigkeiten des Briefmarkendrucks und der Versorgung der Bevölkerung mit Postwertzeichen während der Hochinflation nachvollziehbar zu schildern. Er unterstreicht seine Darstellung mit reichlich beigefügten Markenabbildungen einschließlich Entwürfen und Probedrucken, ausdrucksstarken Belegen, immer wieder Statistiken oder auch zeitgenössischen Dokumenten wie Telegrammen und Dienstschreiben. „Für mich … liest sich auch Band 3 in Teilen so spannend wie ein Krimi und gibt zusätzlich viele Einblicke in Geschehnisse dieser ,einmaligen‘ Zeit, die man schon als verloren geglaubt hat“, heißt es in Christoph Schäfers Geleitwort. Dieser Einschätzung wird man gerne zustimmen.
Rainer von Scharpen
Zwischen Briefmarkenschwemme und Briefmarkennot. Die Geschichte der deutschen Inflations-Briefmarken 1918–1923. Band 3/1 und 3/2: Die Hochinflation 1922–1923. Von Bernd Klemm. Format: DIN A4, 196 + 344 S., Abb. farbig, Hardcover mit Fadenbindung. ISBN 978-3-939298-17-5. Preis: zusammen 90 Euro zzgl. Versandkosten. Bezug: INFLA-Berlin Verlags GmbH, z. Hd. Wilhelm Keppler, Maybachstr. 17, 71735 Eberdingen, Tel. 07042 / 817376, E-Mail: Wilhelm.Keppler@web.de.
Titelabbildung: Telegramm der OPD Hamburg an die Reichsdruckerei vom 13. Oktober 1922: HAMBURG IST SEIT TAGEN OHNE POSTWERTZEICHEN … BESTÄNDE DER POSTÄMTER VÖLLIG ERSCHÖPFT.BESCHWERDEN NEHMEN  TÄGLICH ZU. ABHILFE DRINGEND NÖTIG.

Weitere Literaturtipps 

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