Revolutionierendes Werk zu den Inflationsmarken

Revolutionierendes Werk zu den Inflationsmarken

Es gibt wohl kaum ein deutsches Sammelgebiet, über das schon so lange und so viel geforscht und geschrieben worden ist wie über die Inflationszeit. Und nun erscheint passend zur 100. Wiederkehr der Hyperinflation von 1923 ein auf drei Bände mit über 700 Seiten konzipiertes Werk, das man aufgrund seines Forschungsansatzes und seiner Erkenntnisse als durchaus revolutionierend bezeichnen darf.

Eher zufällig stieß Bernd Klemm auf die im Bundesarchiv in Berlin fast vollständig erhaltenen Akten des Reichspostministeriums (RPM) aus der Inflationszeit, die lange unzugänglich in Archiven der DDR gelagert hatten. In monatelanger Recherche wertete er Tausende von Seiten aus und kann mit Erkenntnissen aufwarten, die so manchen Spezialisten in Erstaunen versetzen. Einzelne „Häppchen“ hat er seit 2018 bereits in den INFLA-Berichten veröffentlicht. Die Fülle des Materials legte schließlich aber eine umfangreiche Gesamtdarstellung nahe.

Klemm knüpft an die bislang einzige Überblicksdarstellung zur Geschichte der Inflationsmarken an, nämlich das 1927 erschienene Kohl-Handbuch. Aber während sich die damaligen Autoren vorrangig mit der Beschreibung der Bogenmerkmale beschäftigten, geht Klemm der Frage nach, unter welchen heute kaum noch nachvollziehbaren schwierigen Bedingungen und „von Anfang an fast unlösbare[n] Herausforderungen“ die Herstellung der Marken stattfand. Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war gekennzeichnet durch immer kürzere, später sich überstürzende Portoperioden: zunächst je eine für die gemäßigte Inflation der Jahre 1919 bis 1921, fünf für 1922 und fünfzehn für die galoppierende Inflation 1923. Unter diesen Umständen war eine in stabilen Zeiten übliche Briefmarkenausgabe als „Ausdruck des politischen und künstlerischen Gestaltungswillens der jeweiligen Postverwaltung“ unmöglich, vielmehr war sie „überwiegend von Sachzwängen diktiert“. Die 1919 für das Folgejahr angekündigte Ablösung der kaiserlichen Germania-Dauerserie ließ lange auf sich warten.

Krisenmanagement beim Druck

-Aufbrauch 60 Pf. Chemnitz-Bernsdorf (OPD Chemnitz) 18.1.1923 Fernbrief mit zwei 10-M- und zwei 3-M-Marken und vierzig 60-Pf.-Marken. Porto 50 M.

Aufbrauch 60 Pf. Chemnitz-Bernsdorf (OPD Chemnitz) 18.1.1923 Fernbrief mit zwei 10-M- und zwei 3-M-Marken und vierzig 60-Pf.-Marken. Porto 50 M. Rückseite der Titelabbildung.

Bis August 1923 benötigte jede vom RPM vorgeschlagene Portoerhöhung die Zustimmung nicht nur der Reichsregierung, sondern auch eine Mehrheit in beiden Kammern des Parlaments – ein langwieriger Prozess. Hält man sich vor Augen, dass die Ausarbeitung und Umsetzung des Entwurfs für eine neue Briefmarke etwa sechs Monate in Anspruch nimmt, so blieb den Planern unter den gegebenen Umständen meist nur Zeit für kurzfristig realisierbare (Not-)Lösungen. Sie betrieben Krisenmanagement.

Auch stellte der Zeitdruck für die technische Ausführung von der Druckvorbereitung bis zum eigentlichen Druck eine enorme Herausforderung dar. Handarbeit hatte selbst im Buchdruck der damaligen Zeit einen hohen Anteil und beschränkte die tägliche Produktion auf 4–6 Mill. Stück, was bei einer neuen Sorte zu Druckzeiten und Lieferungen über mehrere Wochen führte, wobei die Marken dann aufgrund der Geldentwertung oft nur kurz verwendbar bzw. gar nicht mehr gültig waren. Als Ergebnis kam es zu den beiden Extremen „Briefmarkenschwemme“ und „Briefmarkenmangel“.

Erhebliche Versorgungsengpässe

Eine dritte Problematik ergab sich aus der im Briefmarkendruck mit Rücksicht auf den Fälschungsschutz seit der Kaiserzeit praktizierten sog. Pyramidenform: Marken für das Massengeschäft wurden im preiswerten einfarbigen Buchdruck hergestellt, für Pakete und Zusatzleistungen im Zweifarben-Buchdruck, für einige höhere Dienstleistungen im teuren und zeitaufwändigen Kupferdruck. Diese starr beibehaltene Praxis führte 1922/23 zu erheblichen Versorgungsengpässen der Bevölkerung mit Postwertzeichen.

Band I behandelt in fünf Kapiteln die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der ersten Jahre der Weimarer Republik. Er beschreibt u. a. die schwierige finanzielle Lage der Reichspost, die politische Haltung des bis November 1922 amtierenden Reichspostministers Johann Giesbert, geht knapp auf die Arbeit des RPM und ausführlich auf die Verhältnisse in der „roten“ Reichsdruckerei ein, seinerzeit die zweitgrößte Staatsdruckerei der Welt. Im Detail wird anschließend der zeitgenössische Briefmarkendruck erläutert mit seinen besonderen Herausforderungen während der Inflationszeit, beispielsweise dem Kernproblem der schwierigen Druckplattenherstellung oder den Engpässen in der Zähnung. Das letzte Kapitel nimmt sich eingehend der Teilauflagen und Hausauftragsnummern (HAN) an und kann gerade hier mit vielen neuen Details aufwarten. Der dreiteilige Anhang liefert u. a. Angaben zur Belegschaft der Reichsdruckerei, Daten zum Briefmarkenverbrauch 1913–1921, zum Rollenmarkenanteil am Wertzeichen- Verbrauch 1917 wie auch zu den Rollenmarkenbeständen der einzelnen OPDen Ende September 1918.

Der zweite Band beschreibt die Markenausgaben der gemäßigten Inflation von 1919 bis 1921, und der für 2024 angekündigte dritte Band wird die Darstellung mit den Ausgaben des Jahres 1922 und denen des galoppierenden Inflationsjahres 1923 abschließen.

Meilenstein der deutschen Philatelie

In einem kürzlich erschienenen Beitrag für den Philatelic Journalist der AIJP erörtert David Beech die Bedeutung und Möglichkeiten der sog. Kontext-Philatelie. Sie möchte „das Verständnis für den Aspekt der Philatelie, für dessen Sammeln oder Erforschen man sich entschieden hat, erweitern, indem er in einen größeren Zusammenhang gestellt wird. … Beispielsweise könnte es darum gehen, das Thema als einen Aspekt der historischen Entwicklung in politischer, wirtschaftlicher, sozialer, geografischer, humanitärer oder kultureller Hinsicht usw. zu sehen und dadurch ein besseres Verständnis für seine Relevanz zu gewinnen; außerdem könnte man es umfassender darstellen.“ Klemms Werk ist geradezu ein Paradebeispiel für diese neuartige Gesamtsicht der Philatelie und dürfte für geschichtlich Interessierte und Posthistoriker ebenso lesenswert sein wie für Deutschlandsammler allgemein oder auch Perfin-Sammler, wenn es um die Herstellung und Auflagezahlen von Rollenmarken geht. Diesen Meilenstein der deutschen Philatelie sollte sich niemand entgehen lassen.

Klemm, Bernd, Zwischen Briefmarkenschwemme und Briefmarkennot. Die Geschichte der deutschen Inflations-Briefmarken 1918–1923. Band 1: Grundlagen. Band 2: Die Zeit der „gemäßigten“ Inflation 1918-1921. Format A-4, 247 + 275 S., Abb. farbig, Hardcover mit Fadenbindung. ISBN 978-3-939298-15-1 und -16-8. Preis je Band 35 Euro zzgl. Versandkosten. Bezug: INFLA-Berlin Verlags GmbH, z. Hd. Wilhelm Keppler, Maybachstr. 17, 71735 Eberdingen. (07042 817376. – Wilhelm.Keppler@web.de

Rainer von Scharpen

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Authored by: redaktiondbz

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