Marken von überall – ein außergewöhnliches Sammelgebiet
Zululand, Funafuti, Sonora oder Graham Land – wer Briefmarken sammelt, kommt in der Welt herum. Und lernt das eine oder andere exotische Gebiet kennen, das sich in den vergangenen gut 180 Jahren auf und mit gezackten Papierchen verewigt hat. Womit lässt sich schließlich besser ein gewisses Maß an Unabhängigkeit demonstrieren – oder natürlich Geld verdienen –, als mit eigenen Marken? Viele sind trotzdem längst vergessen. Oder wussten Sie, dass die italienische und von der Schweiz umschlossene Enklave Campione vor mehr als 70 Jahren eigene Marken gedruckt hat oder auch mal ein gewisser General Aguinaldo für seine philippinischen Revolutionstruppen Ende des 19. Jahrhunderts? Wer ein wenig abseits der gängigen Kataloge schaut, findet noch viele, viele Ausgabegebiete mehr. Eine spezielle Gruppe der „Alle-Welt-Sammler“ ist förmlich auf der Jagd. ASFE-Collecting (A Stamp From Everywhere) wird das im Englischen genannt. Zu Deutsch etwa: Eine Marke von überall.
Pflicht und Kür
Die Pflicht ist es dabei, mindestens ein Exemplar pro Gebiet zu bekommen. Die Kür, wenn es auch noch eine gestempelte Marke oder gar ein echt gelaufener Brief ist. Wie viele Gebiete es gibt, die eigene Marken herausgegeben haben, lässt sich kaum sagen. Es ist eine Frage des Blickwinkels. Der eine ist zufrieden, alle „aktuellen“ Länder der Welt in seine Sammlung aufzunehmen – also um die 195. Dazu kommen aber noch die „Nebengebiete“. Bei Großbritannien zum Beispiel die Kanalinseln (Jersey und Guernsey) oder die Regionalausgaben für Schottland & Co. Finnland hat die Åland-Inseln zu bieten, Dänemark ist mit Grönland und den Färöern am Start, China mit Hongkong und Macau, und, und … Wer dann noch die ehemaligen Länder oder Vorgängerstaaten hinzunimmt wie die UdSSR, Jugoslawien oder Obervolta, dürfte schnell schon eine beträchtliche Zahl von potenziellen Zugängen für seine Sammlung zusammen haben. Die ganzen Ausgaben für besetzte Gebiete, Teilstaaten, Auslandspostämter und Ähnliches sind da noch nicht mitgerechnet.
Immer noch nicht genug? Verlässt man den vertrauten (Michel-)Katalog, eröffnet sich eine noch viel größere Welt von Ausgabegebieten. Dass Deutschland in Sachen Privatpost einiges zu bieten hat, ist vermutlich bekannt. Sowohl in der klassischen Periode vor und um 1900, als auch ab etwa 2000 bis heute mit PIN & Co. Dass einige skandinavische Länder – Stichwort Bypost – aber ähnlich aktiv waren, wissen eher Spezialisten. Ebenso, dass es im zaristischen Russland weit mehr als 100 verschiedene Lokalverwaltungen, die Zemstvos, mit eigener Post und eigenen Marken gab. Oder dass in unserem Nachbarland neben der niederländischen Post dutzende „Stadspost“-Anbieter im Einsatz sind. Auch am anderen Ende der Welt ist das Thema Briefversand längst Konkurrenzsache. In Neuseeland wartet zum Beispiel „Pete’s Post“ mit vielen farbenfrohen Ausgaben auf. OCA, ein Unternehmen aus Argentinien, hat Fußball-Idol Diego Maradona aufs Papier gebannt. Italien, Japan, USA, Polen – viele, viele Länder weltweit haben den einen oder anderen privaten lokalen Briefdienstleister im Angebot.
Eisenbahn-Gesellschaften, Airlines, Schifffahrts- und Fährenlinien, Busunternehmen, Straßenbahnen, Hotels etc. haben ebenfalls Marken herausgegeben, die im weitesten Sinne auch postalische Aufgaben erfüllt haben. Exoten wie die Löwenberg-Lindow-Rheinsberger Eisenbahn, die Trondheim Storen Jernbane oder Ortsausgaben der Rhodesia Railway für Chisamba oder Luanshya sorgen bei ASFE-Sammlern für Verzückung.
Dubios!
Ein reiches Betätigungsfeld bieten auch manchmal eher dubiose Ausgaben. Marken zum Schaden der Sammler gab es bereits im 19. Jahrhundert. Sedang zum Beispiel ist ziemlich berühmt geworden. Ein Abenteurer erfand das „Land“ und brachte gleich noch passende Marken heraus, die reißenden Absatz fanden. Wer konnte damals schon sicher sein, dass dieses exotische Sedang, das angeblich irgendwo in Indochina lag, gar nicht existierte? Auch während und nach dem Russischen Bürgerkrieg tauchten immer wieder mal „Marken“ auf, angeblich im Namen irgendeiner beteiligten Armee oder eines Generals gedruckt – in Wahrheit aber wohl eher in irgendwelchen Fälscherwerkstätten entstanden. In ASFE-Kreisen werden sie trotzdem gerne gesammelt ob ihrer Entstehungsgeschichte.
Das Portemonnaie der Sammler haben auch in modernen Zeiten viele Produzenten fest im Blick: Mehr als 1200 Einträge umfasst die Liste der „Lokalausgaben“ nach dem Zusammenbruch der UdSSR in den 1990er-Jahren. Orte und Regionen von Weißrussland bis nach Sibirien, meist Aufdrucke auf den billigen Restbeständen der Sowjet-Dauerserien – und zu 99,9 Prozent falsch.
Wer rein nach dem postalischen Bedarf sammelt, ist beim ASFE vermutlich falsch. Die Marken der schottischen Inselchen etwa wie Carn Iar, Hildasay oder Pabay wurden meist ebenso direkt für die Alben der Sammler produziert wie viele der britischen Streikpostausgaben in den 1970er-Jahren. In den normalen Katalogen sind sie natürlich nicht zu finden. Wobei auch bei vielen Gebieten, die den Einzug etwa in den Michel geschafft haben, die Frage ist, wer dessen Marken nutzt beziehungsweise überhaupt nutzen kann. Ob zum Beispiel jetzt unbedingt jede Teilinsel der ehemals Niederländischen Antillen wie Bonaire oder das Kloster auf dem Berg Athos eigene Ausgaben braucht(e), sei dahingestellt.
Überhaupt drücken ASFE-Sammler gerne mal ein Auge zu bei dem, was in ihre Sammlung Einzug halten darf. Das gilt nicht nur für den Status einer Ausgabe, über den einige eher die Nase rümpfen würden. „Cinderellas“, also etwa Aschenputtel-Briefmarken, wie im englischsprachigen Raum die ganzen, freundlich gesagt, eher „semi-offiziellen“ Ausgaben genannt werden, werden gerne aufgenommen. Ein fehlender Zahn oder eine dünne Stelle am Objekt der Begierde wird ebenso manchmal in Kauf genommen – Hauptsache, es lässt sich wieder ein Gebiet von der Fehlliste streichen.
Wachsendes Sammelgebiet
Zuwachs gibt es ohnehin immer wieder, auch ganz offiziell. Erklärt sich beispielsweise ein Staat für unabhängig, gehören Briefmarken mit zum ersten, mit dem er die Welt beglückt. Der Südsudan sorgte dabei 2011 in der Sammlerwelt für einiges Aufsehen, war doch ein Motiv des dreiwertigen Premieren-Satzes dermaßen fehlerhaft, dass es direkt zurückgezogen wurde. Unter anderem blickte der Wappenadler in die falsche Richtung. Auf dem Markt tauchten natürlich trotzdem einige Exemplare auf.
Während der leider immer noch kriegsgebeutelte Südsudan sogar UN-Mitglied und weltweit anerkannt ist, nutzen natürlich auch politisch umstrittene Gebiete die Chance, per Marken ihre „Souveränität“ zu demonstrieren. Die durch den Ukraine-Krieg aktuell wieder in den Fokus geratenen „Republiken“ Luhansk und Donezk etwa geben bereits seit einigen Jahren Marken heraus.
„Wo höre ich auf?“
Wer sich auf ASFE-Pfade begibt, steht zwangsläufig irgendwann vor der Frage: Wo höre ich auf? Fallen zum Beispiel die US-Vorausentwertungen, die sogenannten „Precancels“, die es für mehr als 20 000 (!) verschiedene Städte gibt, ins Beuteschema von ASFE-Sammlern? Oder die praktisch unzähligen „Perfins“, also Durchlochungen von Firmen gegen die missbräuchliche Verwendung ihres Briefmarkenbestandes, die es aus vielen Ländern gibt? Oder die sogenannten „-10 Prozent“-Aufdrucke auf belgischen Marken, von denen es unterschiedliche Typen für mehr als 1000 Orte und Städte gibt? Oder Brieftauben-Marken, die nur an einem Veranstaltungstag gültig waren? Kahnpost für Touristen auf der Spree? Fantasie-Ausgaben irgendwelcher Mikronationen, die eigentlich nur im Internet existieren? Oder, oder, oder? Der Autor meint dazu ganz klar: Ja. Aber die Grenzen kann sich jeder selbst setzen. Das ist ja das Schöne.
Auf jeden Fall lernt der ASFE-Sammler viel über Geografie und Geschichte, wenn er sich mit seinen Exoten beschäftigt. Gerade deshalb habe er sich für diese Art des Sammeln entschieden, sagt zum Beispiel Peter Valdner. „Ich wollte einfach eine Marke von überall”, erzählt der Slowake, in dessen Kollektion mehr als 25 000 verschiedene Gebiete vertreten sind und der sicher zu den fortgeschrittensten ASFE-Vertretern weltweit zählen dürfte. Auch der Deutsche Jürgen Kern liebt die Geschichten hinter dem Gebiet, das „Internationale“, den Kontakt mit Gleichgesinnten rund um den Globus, auch wenn der Kreis der ernsthaften ASFE-Sammler eher klein sein dürfte.
Fluch und Segen dabei: „Komplett“ sein werden Valdner, Kern, ebenso wie der Autor dieses Artikels und alle anderen ASFE-Sammler wohl nie. Wie auch, gibt es doch von einigen Gebieten ohnehin nur eine Handvoll – dementsprechend ziemlich unerschwingliche – Briefmarken. Von der US-amerikanischen Postmeisterausgabe von Alexandria ist sogar überhaupt nur noch ein Exemplar erhalten geblieben, das früher die Haub-Kollektion zierte und 2019 für eine Million US-Dollar versteigert wurde.
Manuel Praest
Kontakt: Der Autor freut sich über Kontakt zu Gleichgesinnten und stellt auch gerne seine Liste zur Verfügung. Kontakt über E-Mail.
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