Urheberkontroverse – zum 400. Geburtstag von Molière
„Für einen Schauspieler ist es das Größte, tot auf der Bühne umzukippen“, äußerte der Mime Walter Kreye in einem Zeitungsinterview. Auch seine Künstlerkollegin Katharina Thalbach hätte nichts gegen ein derartiges Ende. Und Akteur Lars Eidinger bekennt in einem dritten Interview, der Tod auf der Bühne sei „das höchste der Gefühle“, es sei „nicht wiederholbar, das macht es außerdem attraktiv“.
Am 1. Februar 1673 ereilte den französischen Dramatiker Molière, der mit bürgerlichem Namen Jean-Baptiste Poquelin hieß, dieses zweifelhafte Vergnügen auf der Theaterbühne.
Während der vierten Aufführung der von ihm verfassten Komödie „Le Malade imaginaire“, zu Deutsch „Der eingebildete Kranke“, in der er selbst die Hauptrolle spielte, erlitt er gegen Ende des Stückes einen Husten- und Schwächeanfall, den die Zuschauer zunächst für eine Einlage innerhalb des Lustspiels hielten. Kurze Zeit später starb der 51-Jährige noch im Bühnenkostüm in seiner nahegelegenen Wohnung an einem Blutsturz.
Keine Manuskripte
„Der eingebildete Kranke“ gehört zu den berühmtesten Theaterstücken Molières und ist zugleich sein letztes Werk, in dem er die naive Medizingläubigkeit reicher Kranker und die inkompetenten, zu keinerlei Selbstzweifeln fähigen Mediziner vorstellt. Wie kaum ein anderer hat Molière bis heute die Komödie geprägt. Ähnlich wie bei Shakespeare sind keine Manuskripte, Briefe oder Tagebücher von ihm erhalten. Auch über einige Phasen seiner Biografie und die Autorenschaft seiner Werke ist sich die Forschung uneins.
Im französischen Kollektivbewusstsein gilt Molière als Nationaldichter und Pionier des renommierten Nationaltheaters Comédie-Française. Seine Autorenschaft anzuzweifeln, wird mit Ketzerei gleichgesetzt. Veröffentlichungen, die versuchen, den nationalen Mythos als Legendenbildung zu entlarven, erhitzen die Gemüter und führen zu polemischen Debatten.
Bereits 1919 vertrat der französische Lyriker Pierre Louÿs die Ansicht, der Autor Pierre Corneille sei der Verfasser der Molière zugeschriebenen Komödie Amphitryon und weiterer Werke. In den 1950er-Jahren untersuchte der französischen Schriftsteller Henry Poulaille erneut die Aufzeichnungen und Argumente von Louÿs. Danach äußerte Poulaille die These, Corneille und Molière hätten sich gekannt, seien sich mehrmals begegnet und hätten eine geheime Abmachung getroffen, dass Corneille als Ghostwriter gegen Bezahlung für Molière Theaterstücke schreibe.
In den 1990er-Jahren vertieften sich auch zwei belgische Literaturliebhaber in die Kontroverse. Hippolyte Wouters und Christine de Ville de Goyet kamen zu dem Ergebnis, dass Jean-Baptiste Poquelin neben seinen Aufgaben und Aufführungen als Schauspieler, Regisseur und Theaterdirektor weder über die Zeit, den Bildungsgrad noch die erforderliche Bibliothek verfügt habe, um die ihm zugeschriebenen Theaterstücke zu verfassen.
Zu Beginn des 3. Jahrtausends fanden auch computergestützte, mathematische Methoden für die Zuordnung literarischer Werke Einzug in die Literaturwissenschaft. Der digitale Fortschritt eröffnet weitergehende methodische Möglichkeiten und erlaubt den Vergleich sehr umfangreicher Textmengen.
Untersuchungen und Syntaxanalysen von Forschern der Universitäten Grenoble und St. Petersburg verglichen die Werke von Corneille und Molière und vertieften die Zweifel an der Urheberschaft des Letzteren. Das universitäre Establishment Frankreichs verweigerte sich lange Zeit dem geführten Diskurs um ihren Nationalklassiker. Im November 2019 berichtete der Deutschlandfunk über eine Studie französischer Computerlinguisten; demnach habe Molière seine Stücke wahrscheinlich doch selbst geschrieben.
Auch zum 400. Geburtstag des Theaterklassikers, am 15. Januar, wird die Debatte noch nicht beendet sein und in Frankreich wird ihm zu Ehren nach 1944, 1953 und 1973 ein viertes Postwertzeichen erscheinen.
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Danke für den interessanten kleinen Beitrag! (Im Heft hatte ich ihn leider „überlesen“