Shantys erzeugen Gemeinschaft

Shantys erzeugen Gemeinschaft

Bereits in der Mai-Ausgabe des BMS berichtete Kai Böhne über den überraschenden Erfolg des Shanty-Songs von Nathan Evans. Da hier etwas mehr Platz zur Verfügung steht und der Erfolg des ehemaligen Postboten unaufhaltsam scheint (Spiegel online berichtete am 8. Juli vom anhaltenden Siegeszug des Liedes), liefern wir Ihnen gerne weitere Informationen zu diesem Überraschungserfolg (Zwei Videos finden Sie im Text):

Singender schottischer Postbote stiftet Zusammenhalt und gewinnt Herzen

Shantys sind Seemannslieder, genauer gesagt Arbeitslieder, deren rhythmischer Takt die Matrosen bei ihrer körperlichen Arbeit unterstützen, anzuspornen und unterhalten soll. Der junge schottische Postbote Nathan Evans verschaffte dieser Tage einem 160 Jahre altem Shanty zu ungeahnter Popularität.

Normalerweise ist Evans viel an der frischen Luft und trägt auf der schottischen Hochebene in der 37000 Einwohner-Stadt Airdrie, rund 20 Kilometer östlich von Glasgow, Briefe und Pakete aus. Sein Hobby ist die Musik und das Nachsingen von Pop- und Folksongs, die er auf Social-Media-Kanäle hochlädt.

Zum Jahresende 2020 kam es zu einem Überraschungserfolg. Einer seiner Follower hatte Nathan auf Shantys aufmerksam gemacht. Daraufhin stellte Nathan seine Version des neuseeländischen Walfangliedes „Soon May the Wellerman Come“ auf der Video-Plattform TikTok ein. Im Kapuzenpullover, mit schwarzer Wollmütze klopfte er in seinem Zimmer den Rhythmus mit der Faust gegen den Korpus seiner Gitarre. Die Duett-Funktion der Video-Plattform ermöglichte die Beteiligung seiner Zuhörer, so entstanden mehrstimmige Seemannschöre.

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Versorgungsschiff mit Tee und Rum

Während der Corona-Pandemie trifft der Call and Response Song, ein Wechselspiel zwischen Ruf des Vorsängers und Antwort- Refrain des Chors den Nerv vieler Menschen. Das von Einsamkeit handelnde Seemannslied passt in diese Zeit, in der alle zu Hause festsitzen und ihre Freunde nicht sehen können. „Jeder kann mitmachen, mitsingen mit den Füssen stampfen, in die Hände klatschen oder ein Instrument dazu spielen“, betont Nathan Evans. Er möchte seinen Mitstreitern ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Innerhalb kürzester Zeit landete Nathans Song in mehreren Ländern auf Platz eins der Musikcharts. Nie im Leben hätte ich damit gerechnet, blickt Nathan zurück.

Wellerman heißt im Lied das Versorgungsschiff, das die Walfänger mit Proviant und alltäglichen Dingen ausstattet. „Bald kommt der Wellerman, um uns Zucker, Tee und Rum zu bringen“, lautet der Refrain, „eines Tages, wenn das Tonguin erledigt ist, werden wir unsere Sachen packen und gehen.“ Tonguing nannte man die Arbeit der Männer, die den Wal nach dem Fang in Einzelteile zerlegten.

Walfangstation der Weller-Brüder

Im Jahr 1831 gründeten die aus England stammenden Brüder Edward, George und Joseph Weller, die 1829 nach Sydney eingewandert waren, in der Māori-Siedlung Otakou, in der Nähe der heutigen Stadt Dunedin, auf der Südinsel Neuseelands, eine Walfangstation. Von dort verkauften sie Proviant an Walfänger.

In Neuseeland wurde ein landgestützter Walfang betrieben. Die erlegten Wale wurden an Land verarbeitet. Zur ihrer Blütezeit im Jahr 1834 produzierte die Otakou-Station jährlich 310 Tonnen Walöl. Sie bildete den Mittelpunkt von sieben Walfangstationen, die für die Brüder ein einträgliches Handelsgeschäft darstellten. Die Brüder engagierten sich auch im Handel mit Trockenfisch, Kartoffeln, Flachs und Holz. Allein in Otakou beschäftigten die Weller Brüder, über 80 Mitarbeiter, die im täglichen Umgang schlicht Wellermen genannt wurden.

Im Jahr 1835 starb Joseph Weller. Ein Gericht erklärte die von den Brüden in Neuseeland getätigten Landkäufe für rechtlich ungültig. Edward und George sahen sich gedrängt, die Walfangstation aufzugeben. Ihr wirtschaftlicher Erfolg in der Walfangindustrie war nur vorübergehend. 1841 wurde ihre Station in Otakou geschlossen. Aber der Walfang in Neuseeland wurde noch rund 120 Jahre fortgesetzt.

Shantys lindern Heimweh und Corona-Sorgen

Bereits vor eineinhalb Jahrhunderten sorgten Shantys für konstruktive Zusammenarbeit an Deck und vertrieben Heimweh und trübe Gedanken. Die Lieder sorgten für gute Laune bei den Männern, die oft monatelang auf den Meeren unterwegs waren. „Die Einfachheit der menschlichen Stimme hat etwas sehr mächtiges“, weiß auch die Musiktherapeutin Claire Maddocks. „Die Melodie dieser Lieder wiederholt sich immer wieder, ist sehr vorhersehbar und unser Gehirn liebt das.“ Genau wegen dieser Schlichtheit haben die Seeleute im 19. Jahrhundert Shantys bei der Arbeit gesungen. Das gemeinsame Singen hat die schwere Arbeit leichter gemacht und das Gemeinschaftsgefühl gestärkt.

Nathan Evans, dem nach seinen Internet-Erfolgen ein Plattenvertrag angeboten wurde, hat nicht lange gezögert und die Gelegenheit beim Schopf gepackt, sich zukünftig von der Musik zu ernähren. Mit der rustikalen Schleswig-Holsteiner Folkpop-Band Santiano hat er eine gemeinsame Version seines Wellerman-Hits aufgenommen.

Seine Arbeit als Postzusteller hat er gekündigt. Wenn es nicht klappen sollte, ist es auch nicht schlimm, meint er, dann wir er wieder eine normale Arbeit aufnehmen. Aber diese einmalige Chance wollte er sich nicht entgehen lassen. Und eines ist ihm bereits gelungen: Er hat mit seinem Gesang viele Menschen glücklicher gemacht und ein bisschen von den Corona-Sorgen abgelenkt.

Neuer Song über brüderlichen Zusammenhalt

Evans Einsatzfreude wurde belohnt. In mehreren europäischen Ländern war die geballte Windstärke seines Wellerman so kraftvoll, dass sie ihn an die Spitze der Hitparaden katapultierte. Zehn Wochen belegte er laut Marktforschungsunternehmen GfK-Entertainment Platz eins der Deutschen Single Charts. Die verkauften Wellerman-Einheiten bescherten ihm die Auszeichnung Platin-Schallplatte.

Aktuell ist der Schotte im Radio mit seinem neuen, selbst geschrieben Lied „Told You So“ zu hören. Auf dem Videoportal YouTube steht die Single kurz vor ihrem millionsten Aufruf. Evans Herkunft aus dem Großraum Glasgow ist seiner Sprachmelodie deutlich zu entnehmen. In seinem neuen Lied wendet sich der frühere Postbote gegen Besserwisserei und streckt einem strauchelnden Freund, der den Halt verloren hat, brüderlich die rettende Hand entgegen, um ihn ans sichere Ufer zu geleiten. Beiläugig ist es dem Fußballfan gelungen, im Musikvideo auch seine sportliche Leidenschaft zu integrieren. In einer Szene jubelt er im Nationaltrikot im Kreise schottischer Anhänger, in einer weiteren Szene wird hinter ihm gekickt und treffsicher köpft er, singend mit Gitarre in den Händen, einen herannahenden Ball zurück.

Im September soll Nathan Evans beim TRNSMT-Musikfestival in Glasgow auftreten, im Umfeld von Liam Gallagher, Amy Macdonald, den Rockbands Primal Scream und Twin Atlantic und dem Electronic-Duo Chemical Brothers. Danach ist eine Tour durch Großbritannien und Irland angekündigt. Im kommenden Jahr ist im Januar eine Europatournee geplant, auch Auftritte in Berlin, Hamburg, Köln und München sind vorgesehen.

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Beitragsbild und Foto im Text: Der singende schottische Postbote Nathan Evans trifft den Nerv der Zeit. Fotos: Jo Hanley, Universal Music
Briefmarken: Mehrere neuseeländische Briefmarken illustrieren den abenteuerlichen und gefährlichen Walfang vor 160 Jahren.

 

 


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Authored by: Kai Böhne

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