Rätselhafte Ganzsachen nach der Wiedervereinigung
Das Ereignis liegt zwar schon mehr als ein Vierteljahrhundert zurück, so mancher Deutschland-Sammler kann sich aber noch daran erinnern. Die DDR war zu Grabe getragen, das Ministerium für Post- und Fernmeldewesen wurde erfolgreich abgewickelt, da tauchten im Frühjahr 1991 bei Händlern und über Vertreter der organisierten Philatelie Umschläge auf, die als Wertstempel die Freimarken der Serie „Bauwerke und Denkmäler“ trugen. Jener Dauerserie, die am 2. Juli 1990 in D-Mark in der DDR Ersttag hatte und nach der Wiedervereinigung noch bis zum 31. Dezember 1991 frankaturgültig war.
DDR-Werteindrucke erst nach der Einheit produziert
Insgesamt neun rahmfarbene Umschläge mit allen Wertstufen von 10 bis 500 Pfennig wurden zu einem recht stolzen dreistelligen DM-Preis präsentiert – und auch gekauft. Befragte Händler erklärten dazu, dass diese privat aufgelegten Ganzsachen erst „neu“ reingekommen seien und sich der Preis aus der niedrigen Auflage ergebe.
Inzwischen haben diese Umschläge Eingang in die Kataloge und Handbücher gefunden. Michel ordnet sie bei DDR-Privatganzsachen unter den Nummern PU 15 bis 23 ein. Auch Nachschlagewerke wie „Privatganzsachen der DDR“ des Berliner Ganzsachen-Sammler-Vereins oder der Arbeitsgemeinschaft „DDR-Spezial“ mit dem Titel „Die Verwendung von Ganzsachen-Ausschnitten in der DDR“ gehen auf diese Umschläge in Wort und Bild ein.
Wer gab den Auftrag?
Mit solchen Gefälligkeitsstempeln kamen die Umschläge in den Handel. Teils mit Sonder-, teils mit Tagesstempel entwertet. Das 50-Pfennig-Kuvert wurde auffrankiert, weil das Porto sonst am 4. Dezember 1991 keinen Sinn ergeben hätte.
Zu der Frage, wer die Privatganzsachen in Auftrag gab und warum sie wohl nicht regelgerecht erst rund ein halbes Jahr nach dem Untergang der DDR an die Öffentlichkeit gelangten, gibt es bislang wenig Informationen. Dabei sind dies entscheidende Fragen. Erstens handelt es sich um aufgedruckte Wertzeichen, die nur die Deutsche Post der DDR produzieren und emittieren durfte. Und ab 3. Oktober 1990 war logischerweise deren Zeit abgelaufen. Zweitens wurden die Umschläge zum Zeitpunkt der Abgabe für die Öffentlichkeit wenig den gültigen Portosätzen gerecht. Bekanntlich waren am 1. April 1991 die Tarife im Verkehrsgebiet Ost des wiedervereinten Deutschland denen im Westen angeglichen worden.
Es lag nahe, in den Akten des ehemaligen Ministeriums für Post und Fernmeldewesen der DDR (MPF) Aufklärung über das Entstehen der Privatumschläge zu erlangen. Dankenswerterweise erklärte sich Alfred Peter, seit Jahren für die DBZ erfolgreich beim Aufspüren und Auswerten von Informationen aus den Akten, bereit, sich der Sache anzunehmen. Doch Fehlanzeige. Keinerlei Anträge, Bewilligungen oder Druckgenehmigungen waren zu finden. Auch das Archiv für Philatelie der Museumsstiftung in Bonn verfügt nach Auskunft von Dr. Andreas Hahn über keine Unterlagen.
Wohl aber gab es Hinweise von Philatelisten und Experten, die sich mit der letzten Freimarken-Serie der DDR intensiv beschäftigten. Die umfangreichsten Angaben macht Günther Steinbock in seinem Handbuch „Bauwerke und Denkmäler“ (morgana-edition 2011). Er führt an, dass Gottfried Opitz aus Kassel die privaten Ganzsachen-Umschläge in Auftrag gab. Offensichtlich verzögerten sich die Fertigung und die Lieferung an den Kunden. Weiter führt Steinbock aus: „Die angebliche Auflage von nur 1000 Stück je Werteindruck … wurde wegen der verspäteten Auslieferung für G. Opitz auch zum finanziellen Risiko (Gesamt-Frankaturwert 11000,- DM), denn mit dem 31. Dezember 1991 nahte auch nur knapp sechs Monate später bereits das Ende der Frankaturgültigkeit.“
Treuhand dabei?
Ein Händler, der sogenannte „Opitz-Umschläge“ kaufte und postalisch laufen ließ, um „wirkliche Raritäten“ liefern zu können, meinte in seinem Werbematerial vom September 1991, dass die Umschlagserie „unter Einschaltung der Treuhand und deren tatkräftiger Hilfe“ entstanden sei. Auch hätten für die Produktion der Wertstempel keine Originaldruckstöcke mehr zur Verfügung gestanden, wodurch Unterschiede im Druck zwischen den Wertstempeln und den DDR-Freimarken entstanden. Wer eine Lupe zur Hand nimmt und vergleicht, wird dem nicht widersprechen können.
Der Michel hebt zu Beginn seiner Katalogisierung hervor, dass die „Umschläge Ende 1990 und Mitte 1991 gedruckt und ausgeliefert“ wurden. Der als Experte bekannte Franz Stransky bezog klar Stellung. Er nahm in seiner Veröffentlichung „Was man über die Ganzsachen der DDR wissen muß“ diese unter der B-Rubrik nicht auf. Seine Begründung: Sie wurden „nach dem Erlöschen der Posthoheit am 2.10.1990 noch mit deren Wertstempeln herausgegeben“. Es bleibt also festzuhalten: Die Ganzsachen mit Wertstempel entstanden erst nach dem Ende des Arbeiter-und-Bauern-Staates, wenn auch der genaue Zeitpunkt nicht bekannt ist.
Aus Gefälligkeit
Es erhebt sich die Frage, was mit der Auflage von 1000 Sätzen geschah. Der größte Teil der Umschläge wurde wohl postfrisch verkauft. Es gibt Hinweise darauf, dass der Kasseler Versandhändler später selbst einen Teil der Auflage angesichts der immer knapper werdenden Zeit bis zum Ablauf der Gültigkeit am 31. Dezember 1991 gefälligkeitsstempeln ließ. Im Handbuch von Günther Steinbock heißt es: „Im letzten Quartal 1991 versuchte Opitz bei einer Teilauflage, passend zu den Werteindrucken, die Umschläge mit entsprechenden Ortstages- oder -sonderstempeln zu versehen. Das Verfahren zog sich bis Dezember 1991 hin …“
In der Tat wurde etwa ab Anfang 1992 der Satz mit neun Umschlägen im Handel mit Gefälligkeitsstempeln angeboten. Einige Beispiele: Die 10-Pfennig-Ganzsache hatte einen Stempel vom 31. Juli 1991 Meißen zum 150. Geburtstag der Freiwilligen Feuerwehr erhalten, der Umschlag zu 80 Pfennig einen Potsdam-Sonderstempel vom 17. August 1991 mit Schloss Cecilienhof, Historische Gedenkstätte Potsdamer Abkommen, das 100-Pfennig-Kuvert in Ermangelung von etwas Besserem einen Tagesstempel Eisenach vom 24. Dezember 1991. Bei den Wertstufen 30 und 50 Pfennig hatten die Werteindrucke eine motiv- und nominalgleiche Zusatzfrankatur erhalten, um einigermaßen die damals gültigen Portosätze abzubilden.
Selten befördert
Ungereimtheiten bei privaten Umschlägen
Philatelistisch interessant ist, ob und in welchem Umfang die Ganzsachen eigentlich bedarfsmäßig und portorichtig verwendet wurden. Als die Freimarken „Bauten und Denkmäler“ am 2. Juli 1990 erschienen, waren sie hinsichtlich der Wertstufen auf die seit dem 1. Juli 1990 in der DDR geltenden Portosätze nach Einführung der Deutschen Mark ausgerichtet. Da kostete zum Beispiel ein Standardbrief Inland und „befreundete Länder“ 50 Pfennig, eine Drucksache Inland bis 100 Gramm 70 Pfennig, die Eilzustellung zusätzlich 200 Pfennig.
Als aber die Privatumschläge von Opitz in den Handel und zu den Sammlern kamen, galten seit dem 1. April 1991 die gesamtdeutschen Portosätze auch im Verkehrsgebiet Ost. Nur einige der neun Umschläge konnten ohne Zusatzfrankatur verwendet werden. In der Praxis hat – außer einigen wenigen Sammlern und Händlern wie der weiter vorn erwähnte Anbieter – kaum einer diese philatelistische Gelegenheit genutzt. Noch seltener war echter Bedarf. Nur wenige erhaltene Exemplare zeugen von einer bedarfsmäßigen Beförderung – meist mit Zusatzfrankatur. Immerhin, es gibt einige Philatelisten, die in ihren Sammlungen solche nachweisen können.
Rar sind auch Ganzsachen-Ausschnitte, die zur Frankatur verwendet wurden. Das war in der DDR erlaubt, und auch im Verkehrsgebiet Ost wurde dies hin und wieder praktiziert. Am ehesten noch dürfte das auf den Wertstempel zu 50 Pfennig zutreffen, da dann der Ganzsachen-Ausschnitt plus eine 50-Pfennig-Freimarke „Brandenburger Tor“ ab 1. April 1991 das Porto für einen Standardbrief ergaben.
Auch mit Zudruck
Experten, die sich den „Opitz-Ganzsachen“ widmen, können auch Umschläge mit Zudruck in ihren Sammlungen belegen. Die gibt es für alle Wertstufen mit der roten Inschrift „Tag der Briefmarke 1991 – Hilfsdienste im Straßenverkehr – Straßenwacht / Schützen – Retten – Bergen“. Eine weitere Serie wartet auf der linken Seite mit dem schwarzen Zudruck „31.12.1991 – Letzter Tag der Gültigkeit der Postwertzeichen DEUTSCHE POST / herausgegeben vom Juli bis Oktober 1990 in den neuen Bundesländern“ auf. Darunter erscheinen die fünf Wappen der neuen Länder mit Namensbezeichnung. Vermerkt sei, dass die Umschläge zur Philatelia ’90 am Berliner Alexanderplatz und auch jene mit der Inschrift „Philatelia ’90–91“ nicht zu den typischen „Opitz-Ganzsachen“ zählen.
Alles in allem gehören die Ganzsachen-Umschläge MiNr. PU 15 bis 23 zu den philatelistischen Besonderheiten, um nicht zu sagen Absonderlichkeiten, die im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands entstanden. Leider verstarb der Schöpfer dieser Umschläge, Gottfried Opitz, 2014. Seine Tochter erklärte den Autoren gegenüber, dass zu seinen philatelistischen Aktivitäten keinerlei Unterlagen mehr vorhanden seien. Es gibt also weiter einige Rätsel. Wer genehmigte die Produktion? Wann genau und wo wurden die Umschläge gedruckt? Vielleicht hilft dieser Beitrag bei der Aufklärung.
Kontakt: Der Berliner Ganzsachen- Sammler-Verein (Linus Lange, Florastr. 31, 13187 Berlin, Tel. 030 / 48096834, linus.lange@berlin.de, www.bgsv.de) und die ArGe DDR-Spezial (Henry Biebaß, Oschatzer Str. 32, 01127 Dresden, Tel. 0351 / 8489367, Geschaeftsstelle@ ddr-spezial.de, www.ddr-spezial.de) forschen und publizieren auf dem Gebiet. Hinweise und Ergänzungen nimmt Joachim Schwab, Rheinstr. 114 A, 56179 Vallendar, Tel. 0261 / 9732507, joachim-schwab@t-online.de gern entgegen.
Text: Walter Köcher/Joachim Schwab /// Titelabbildung: wikimedia.org
Rarität – „Meine erste Reise DDR > Westdeutschland“, dokumentiert auf Grußkarte aus Hamburg – gestempelt/frankiert, gelaufen, frankiert mit
* Sondermarke 1990 DDR – Wert 20
* Dt. Bundespost Berlin (Nofretete) – Wert 20
* Dt. Bundespost (Emma Ihrer) – Wert 5
* Deutsche Demokratische Republik (Alfred-Brehm-Haus) – Wert 5
* versendet/gestempelt in Hamburg 2000
(kuriose Handschrift zur Wiedervereinigung)
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