„Ob ich will oder nicht …“
âDiejenige Nation, die das geringste Quantum Alkohol zu sich nimmt, die gewinnt.â Dieser Satz stammt nicht etwa aus den Regularien der Abstinenzler-Weltmeisterschaften, sondern ist eine der vielen Weisheiten Kaiser Wilhelms II. Von ihm stammte allerdings auch die EinschĂ€tzung: âDas Automobil ist eine vorĂŒbergehende Erscheinung. Ich glaube an das Pferd.â Sowohl der Siegeszug des Automobils als auch der Ausgang des Krieges straften den Kaiser LĂŒgen. In beiden Weltkriegen war der deutsche Alkoholkonsum auf dem Tiefstand, und es darf nicht vergessen werden, dass Deutschland auch 1939 von einem Abstinenzler in den Untergang gefĂŒhrt wurde.
Anti-Alkoholismus
Die Geschichte des Alkohols begann vor rund zwei Milliarden Jahren, als Hefen und Bakterien lernten, Zucker als NĂ€hrstoff zu verwerten. Damit scheint dieses Prinzip sehr viel nachhaltiger und durchsetzungsfĂ€higer zu sein als sĂ€mtliche Dinosaurier und Hohenzollern zusammen. Was tat Noah, als die Sintflut zu Ende ging? Er baute Wein an und betrank sich. Die Menschen erkannten frĂŒh den groĂen NĂ€hr- und Unterhaltungswert vergorener FrĂŒchte. Mit fortschreitender Zivilisation gelang es ihnen, aus nahezu allen Nahrungsmitteln Alkohol herzustellen. Der Begriff selbst stammt ĂŒbrigens aus dem Arabischen und bedeutet âetwas Feinesâ.
Dass der Trunk in Massen genossen aber auch groĂen Schaden anrichten kann, erkannten nicht nur die Moslems, sondern bald auch die ersten Calvinisten in Mitteleuropa und deren geistigen Erben, die Puritaner. Wein und Bier waren zum GlĂŒck fĂŒr die meisten Menschen zu teuer fĂŒr den tĂ€glichen Gebrauch. Mit Aufkommen der Industrialisierung wurde Nordeuropa aber förmlich von billigem Schnaps ĂŒberschwemmt. âGin-Kriseâ hieĂ das in England und âBranntweinpestâ in Deutschland. Da der Alkoholkonsum jetzt SchĂ€den von gesellschaftlichem AusmaĂe anrichtete, fehlte es nicht an Gegenbewegungen. Christliche und der Arbeiterwohlfahrt entsprungene Vereine predigten Abstinenz und wurden dabei sogar von der Obrigkeit unterstĂŒtzt. 1837 rief der preuĂische König Friedrich Wilhelm III. beispielsweise alle protestantischen Geistlichen dazu auf, MĂ€Ăigkeitsvereine zu grĂŒnden. Vier Jahre spĂ€ter gab es ĂŒber 300 solcher âVereine gegen das Branntweintrinkenâ in PreuĂen. Die antialkoholischen Missionare wie das âBlaue Kreuzâ â Motto: âMit Jesus und ohne Alkoholâ â oder die aus den USA stammenden âGuttemplerâ â âEnthaltsamkeit, SolidaritĂ€t und Friedenâ â erzielten aber keinerlei Erfolge, ganz im Gegenteil: Bis zum Krieg 1914 wurde deutschlandweit stetig mehr getrunken.
Als im 19. Jahrhundert viele Arbeiter billigem Schnaps verfielen, entstanden die ersten âVereine gegen das Branntweintrinkenâ
Einen ganz anderen Ansatz wĂ€hlte der Philosoph und RevolutionĂ€r Friedrich Engels. Da er den Alkoholismus als unmittelbares Symptom des âPauperismusâ ansah, plĂ€dierte er folgerichtig fĂŒr die Abschaffung des Kapitalismus. Die These des âElendsalkoholismusâ konnte sich aber nicht durchsetzen. Zweifelsohne boten die elenden Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter genĂŒgend Anlass, sich mit billigem Schnaps zu betĂ€uben, doch neuere wissenschaftliche Untersuchungen ĂŒberraschen mit dem Ergebnis, dass damals das ânarkotische Trinkenâ eine verpönte Randerscheinung war. Anders sah es mit dem âinstrumentellen Trinkenâ aus. Dieses lag vor, wenn die Arbeiter Kalorienmangel oder Arbeitsbelastungen durch mĂ€Ăigen aber bestĂ€ndigen Alkoholkonsum zu kompensieren versuchten. Nicht umsonst wurde in England zeitweise jedem Arbeiter tĂ€glich ein Liter Schwarzbier ausgeschenkt. âGuinness for Strengthâ versprach Kohlehydrate und Mineralstoffe. Mit dem Ausbau der Sozialsysteme Ende des 19. Jahrhunderts verschwand diese Form des Trinkens tatsĂ€chlich weitgehend von selbst. Gegen den dritten Aspekt, das âsoziale Trinkenâ, war hingegen kein legales Kraut gewachsen.
Je besser es den Arbeitern ging, desto mehr Gelegenheit hatten sie, sich mit ihren Kollegen im Wirtshaus zu treffen. Die einbrechenden Konsummengen in Krisenzeiten belegen eine gewisse Korrelation mit dem gesellschaftlichen Wohlstand. Im Kaiserreich spielte schlieĂlich die LeistungsfĂ€higkeit der Arbeitnehmer und der Soldaten erstmals eine Rolle: Volksgesundheit im Interesse der Arbeitgeber. Der âDeutsche Verein gegen den Missbrauch geistiger GetrĂ€nkeâ (DVMG) propagierte sittlichen Ernst und Temperenz. Er wurde vom Kaiser nach KrĂ€ften unterstĂŒtzt. FĂŒr das Volk sollte fortan gelten, dass gesunde LebensfĂŒhrung keine Privatangelegenheit ist, sondern vaterlĂ€ndische Pflicht, woraus der âGröĂte Abstinenzler aller Zeitenâ seine perverse rassische Volksgesundheit formte. Heute wird dies subtiler formuliert, aber Vorsicht bleibt geboten.
Alkoholismus ist zweifelsohne eine Krankheit, doch die Selbstoptimierung ist seine kleine Schwester. Der Versuch, ein Volk zu optimieren, endet aber fast immer im Verbrechen. MaĂhalten â ob mit oder ohne Alkohol â ist leider keine deutsche Tugend.
Text: Jan Sperhake
Die Karten fanden wir unter www.ansichtskartenversand. com. Fast eine viertel Million StĂŒck bieten Dusan Bartko und Ondre Reher im Internet und ihrem GeschĂ€ft an. Dieses befindet sich an der LinienstraĂe 156 in 10115 Berlin.
AlpenlÀnder 2024 (E 1)
ISBN: 978-3-95402-471-1
Preis: 74,00 âŹ
Versandkostenfreie Lieferung innerhalb Deutschlands.
Jetzt bestellen