„Ob ich will oder nicht …“

„Ob ich will oder nicht …“

„Diejenige Nation, die das geringste Quantum Alkohol zu sich nimmt, die gewinnt.“ Dieser Satz stammt nicht etwa aus den Regularien der Abstinenzler-Weltmeisterschaften, sondern ist eine der vielen Weisheiten Kaiser Wilhelms II. Von ihm stammte allerdings auch die EinschĂ€tzung: „Das Automobil ist eine vorĂŒbergehende Erscheinung. Ich glaube an das Pferd.“ Sowohl der Siegeszug des Automobils als auch der Ausgang des Krieges straften den Kaiser LĂŒgen. In beiden Weltkriegen war der deutsche Alkoholkonsum auf dem Tiefstand, und es darf nicht vergessen werden, dass Deutschland auch 1939 von einem Abstinenzler in den Untergang gefĂŒhrt wurde.

Anti-Alkoholismus

Ansichtskarten Spiegel Alkohol Wirtschaft Missbrauch Arbeiter Schnaps Branntwein 19. Jahrhundert (2)

Des Kaisers Versprechen, es wĂŒrde sich ohne Alkohol besser siegen, wurde von der RealitĂ€t nicht eingelöst. Im SchĂŒtzengraben hielt oft nur der Schnaps die Moral aufrecht.

Die Geschichte des Alkohols begann vor rund zwei Milliarden Jahren, als Hefen und Bakterien lernten, Zucker als NĂ€hrstoff zu verwerten. Damit scheint dieses Prinzip sehr viel nachhaltiger und durchsetzungsfĂ€higer zu sein als sĂ€mtliche Dinosaurier und Hohenzollern zusammen. Was tat Noah, als die Sintflut zu Ende ging? Er baute Wein an und betrank sich. Die Menschen erkannten frĂŒh den großen NĂ€hr- und Unterhaltungswert vergorener FrĂŒchte. Mit fortschreitender Zivilisation gelang es ihnen, aus nahezu allen Nahrungsmitteln Alkohol herzustellen. Der Begriff selbst stammt ĂŒbrigens aus dem Arabischen und bedeutet „etwas Feines“.

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„Ob ich will oder nicht, Du bist mein Schicksal“ war ein Schlager des Wiener Erfolgskomponisten Bruno Hauer. Dieser Scherz bleibt eher im Halse ­stecken.

Dass der Trunk in Massen genossen aber auch großen Schaden anrichten kann, erkannten nicht nur die Moslems, sondern bald auch die ersten Calvinisten in Mitteleuropa und deren geistigen Erben, die Puritaner. Wein und Bier waren zum GlĂŒck fĂŒr die meisten Menschen zu teuer fĂŒr den tĂ€glichen Gebrauch. Mit Aufkommen der Industrialisierung wurde Nordeuropa aber förmlich von billigem Schnaps ĂŒberschwemmt. „Gin-Krise“ hieß das in England und „Branntweinpest“ in Deutschland. Da der Alkoholkonsum jetzt SchĂ€den von gesellschaftlichem Ausmaße anrichtete, fehlte es nicht an Gegenbewegungen. Christliche und der Arbeiterwohlfahrt entsprungene Vereine predigten Abstinenz und wurden dabei sogar von der Obrigkeit unterstĂŒtzt. 1837 rief der preußische König Friedrich Wilhelm III. beispielsweise alle protestantischen Geistlichen dazu auf, MĂ€ĂŸigkeitsvereine zu grĂŒnden. Vier Jahre spĂ€ter gab es ĂŒber 300 solcher „Vereine gegen das Branntweintrinken“ in Preußen. Die antialkoholischen Missionare wie das „Blaue Kreuz“ – Motto: „Mit Jesus und ohne Alkohol“ – oder die aus den USA stammenden „Guttempler“ – „Enthaltsamkeit, SolidaritĂ€t und Frieden“ – erzielten aber keinerlei Erfolge, ganz im Gegenteil: Bis zum Krieg 1914 wurde deutschlandweit stetig mehr getrunken.

Als im 19. Jahrhundert viele Arbeiter billigem Schnaps verfielen, entstanden die ersten „Vereine gegen das Branntweintrinken“

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Diese Motivkarte wurde vom „Deutschen Verein gegen den Missbrauch geistiger GetrĂ€nke“ ausgegeben. Zwischen dem Leihhaus rechts und der Schnapsbrennerei links steht einzig die Familie.

Einen ganz anderen Ansatz wĂ€hlte der Philosoph und RevolutionĂ€r Friedrich Engels. Da er den Alkoholismus als unmittelbares Symptom des „Pauperismus“ ansah, plĂ€dierte er folgerichtig fĂŒr die Abschaffung des Kapitalismus. Die These des „Elendsalkoholismus“ konnte sich aber nicht durchsetzen. Zweifelsohne boten die elenden Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter genĂŒgend Anlass, sich mit billigem Schnaps zu betĂ€uben, doch neuere wissenschaftliche Untersuchungen ĂŒberraschen mit dem Ergebnis, dass damals das „narkotische Trinken“ eine verpönte Randerscheinung war. Anders sah es mit dem „instrumentellen Trinken“ aus. Dieses lag vor, wenn die Arbeiter Kalorienmangel oder Arbeitsbelastungen durch mĂ€ĂŸigen aber bestĂ€ndigen Alkoholkonsum zu kompensieren versuchten. Nicht umsonst wurde in England zeitweise jedem Arbeiter tĂ€glich ein Liter Schwarzbier ausgeschenkt. „Guinness for Strength“ versprach Kohlehydrate und Mineralstoffe. Mit dem Ausbau der Sozialsysteme Ende des 19. Jahrhunderts verschwand diese Form des Trinkens tatsĂ€chlich weitgehend von selbst. Gegen den dritten Aspekt, das „soziale Trinken“, war hingegen kein legales Kraut gewachsen.

Je besser es den Arbeitern ging, desto mehr Gelegenheit hatten sie, sich mit ihren Kollegen im Wirtshaus zu treffen. Die einbrechenden Konsummengen in Krisenzeiten belegen eine gewisse Korrelation mit dem gesellschaftlichen Wohlstand. Im Kaiserreich spielte schließlich die LeistungsfĂ€higkeit der Arbeitnehmer und der Soldaten erstmals eine Rolle: Volksgesundheit im Interesse der Arbeitgeber. Der „Deutsche Verein gegen den Missbrauch geistiger GetrĂ€nke“ (DVMG) propagierte sittlichen Ernst und Temperenz. Er wurde vom Kaiser nach KrĂ€ften unterstĂŒtzt. FĂŒr das Volk sollte fortan gelten, dass gesunde LebensfĂŒhrung keine Privatangelegenheit ist, sondern vaterlĂ€ndische Pflicht, woraus der „GrĂ¶ĂŸte Abstinenzler aller Zeiten“ seine perverse rassische Volksgesundheit formte. Heute wird dies subtiler formuliert, aber Vorsicht bleibt geboten.
Alkoholismus ist zweifelsohne eine Krankheit, doch die Selbstoptimierung ist seine kleine Schwester. Der Versuch, ein Volk zu optimieren, endet aber fast immer im Verbrechen. Maßhalten – ob mit oder ohne Alkohol – ist leider keine deutsche Tugend.

Ansichtskarten Spiegel Alkohol Wirtschaft Missbrauch Arbeiter Schnaps Branntwein 19. Jahrhundert (1)

Der „Bund abstinenter Frauen in Österreich“ thematisierte auf dieser Postkarte Alkoholismus in der Familie.

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Die „grĂŒne Fee“ verschwindet nach vollendeter Tat. „La fĂ©e verte“ stand fĂŒr den hochprozentigen Absinth.

Text: Jan Sperhake

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Authored by: Stefan Liebig

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