Römische Verträge feiern 60. Geburtstag
„Ich darf nicht vergessen, ein Devisengesuch einzureichen. Denn da Salzburg in Österreich liegt, muß ich die Grenze überschreiten, und wer zur Zeit die Genze überschreitet, darf, pro Monat, ohne weitere Erlaubnis, höchstens zehn Reichsmark mitnehmen. Nun habe ich mathematisch einwandfrei festgestellt, daß ich in diesem Fall an jedem Tag – den Monat zu dreißig Tagen gerechnet – genau 33,3333 Pfennige ausgeben kann, noch genauer 33,3333333 Pfennige. Was zu wenig ist, ist zu wenig.“
Handesschranken und Grenzkontrollen abgeschafft
Devisenbeschränkungen, Grenzkontrollen, Handelsschranken – lange ist es nicht her, dass wir in Europa mit solcherlei Hemmnissen leben mussten. Sicher, Erich Kästner wählte ein extremes Beispiel für seinen satirischen Kurzroman „Das Salzburger Tagebuch des Georg Rentmeister oder Der kleine Grenzverkehr“. Welch große Chancen der freie Handels- und Reiseverkehr, die offenen Grenzen bieten, haben indessen auch jene in den freiheitlichen Staaten recht spät begriffen, die ansonsten große Denker wie Adam Smith und David Ricardo gern zitieren.
Die älteren Leser der DBZ werden sich noch daran erinnern. Wann immer die Sendung einer Versandstelle, eines Fachhändlers oder eines Sammlerfreundes aus dem Ausland einlangte, klingelte der Postzusteller keineswegs, um sich das Einschreiben quittieren zu lassen. Vielmehr hielt er die Hand auf, denn auf dem Brief klebte ein grüner Zettel mit dem Hinweis, wie viel Einfuhrumsatzsteuer zu entrichten sei. Sicher, manchmal hatte man Glück, und der Brief rutschte durch den Zoll. Oftmals schauten auch Postdienste, Berufsphilatelisten und Tauschpartner auf die Freibeträge und verschickten Lieferungen, deren Wert knapp darunter lag. Im Regelfall gelang es aber nicht, die Gesetze auszuhebeln. Der grenzüberschreitende Handel kostete ebenso Zeit und Geld wie die alljährlichen Staus an den innereuropäischen Grenzen zu den Hauptreisezeiten.
Offene Grenzen dank Schengen
Der freie Markt und die dank der beiden Abkommen von Schengen offenen Grenzen – beide Abkommen stammen aus der Regierungszeit Helmut Kohls; er, nicht Angela Merkel hat die Grenzen geöffnet – wären undenkbar ohne die am 25. März 1957 unterzeichneten Römischen Verträge. Formal entstand mit ihnen zum 1. Januar 1958 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom). Zudem regelten sie die Zusammenarbeit untereinander und mit der bereits 1951 gegründeten Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, der Montanunion. Für alle drei entstanden separate Leitungen. Die Hohe Behörde der Montanunion leitete anfangs kein Geringerer als Jean Monnet. EWG?und Euratom hatten Kommissionen, Ersterer stand durchgehend der Deutsche Walter Hallstein vor. 1965 dann beschlossen die beteiligten Staaten, die Institutionen der drei Vereinigungen zusammenzuschließen. Aus den Europäischen Gemeinschaften mit einer gemeinsamen Europäischen Kommission erwuchs die Europäische Union.
Großbritannien und die EU
Vertreter von sechs Staaten unterzeichneten die Römischen Verträge: Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande. Nicht dabei war Großbritannien, dessen langjähriger Premierminister Winston Churchill bereits 1946 die Vereinigten Staaten von Europa angeregt hatte. Allerdings sprach er schon seinerzeit Frankreich und Deutschland die Hauptverantwortung dafür zu, derweil Großbritannien Europa „verbunden, aber nicht eingeschlossen“ sein sollte. Ohnehin bildeten Churchill und seine Partei 1946 seiner Majestät Opposition, konnten also unbefangener denken und planen als in den 50er-Jahren, als sie wieder Regierungsverantwortung trugen.
Zu den historischen Glücksfällen zählt, dass den Kabinetten der sechs Gründerstaaten Vertreter der christlich-konservativen, liberalen und sozialdemokratischen Parteien vorstanden und angehörten. Somit herrschte von Anbeginn Einigkeit zwischen allen wichtigen politischen Richtungen, mochte auch die eine oder andere nationale Partei der Versuchung nicht widerstehen, in der Opposition stehend gegen Europa zu votieren – auch das eine Gemeinsamkeit der drei Grundströmungen. Den größten Bekanntheitsgrad erlangten Bundeskanzler Konrad Adenauer und der italienische Ministerpräsident Alcide de Gasperi, beides Christdemokraten. Gasperi verstarb allerdings bereits 1954. In den Jahren danach wechselten die Präsidenten des Ministerrates, so die offizielle Bezeichnung, häufig, doch regierte stets die Demokrazia Cristiana.
Französische Präsidenten
Der Christdemokrat Robert Schuman und der Sozialdemokrat Pierre Mendez-France sind die bekanntesten französischen Ministerpräsidenten jener Zeit – Charles de Gaulle wurde erst 1958 Ministerpräsident, danach Staatspräsident. Allerdings kamen in den 50er-Jahren in recht schneller Folge neue Regierungen mit Ministerpräsidenten aus sechs Parteien ins Amt, sodass an den Verhandlungen letztendlich alle bedeutenden Parteien beteiligt waren. Als Konstante stehen die Staatspräsidenten Vincent Auriol und René Coty in den Annalen, ein Sozialdemokrat und ein Konservativer. Insgesamt amtierten in den zehn Jahren der IV. Republik nicht weniger als 21 Kabinette. Nicht mitgerechnet wurde die Regierung unter dem Sozialdemokraten Christian Pineau, die nach der Berufung durch Staatspräsident Coty bereits nach acht Tagen an der Bestätigung durch die Nationalversammlung scheiterte. Diese innenpolitischen Wirren machen die Leistung, Frankreich in einen Staatenbund zu führen, umso bemerkenswerter; wer die heutige Welt dauerhaft im Zustand der Krise wähnt, der sollte sich die Entwicklungen früherer Jahrzehnte einmal genauer anschauen.
In Luxemburg regierte vor allem der Christsoziale Joseph Bech, während in Belgien und den Niederlanden die Sozialdemokraten dominierten. Achille Van Acker bildete nach der kurzen Regierungszeit des Christdemokraten Jean Van Houtte das für die Verhandlungsphase entscheidende Kabinett in Belgien. Willem Drees drückte seinem Land und seiner Partei dermaßen den Stempel auf, dass die Partij van de Arbeid auch heute noch mitunter „Partij van Drees“ genannt wird.
Von Anbeginn hagelte es Kritik an einzelnen Punkten und Entscheidungen. Auch mochte mancher den Ausverkauf nationaler Interessen in einem zusammenwachsenden Europa erkennen. Dies führte zu dem weit verbreiteten Eindruck, die Europäische Union sei vor allem vorangestolpert. Das Gegenteil ist der Fall. Nur selten gelang es in der Weltgeschichte, ein Vorhaben dieser Größe ruhiger und zielstrebiger voranzutreiben. Beispielhaft kann man dies an der Einführung des Euros aufzeigen.
Nach verschiedenen gescheiterten Anläufen machten Ende 1978 der französiche Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing und Bundeskanzler Helmut Schmidt Nägel mit Köpfen und präsentierten ein umsetzungsreifes Konzept für eine Währungsunion. Die Gespräche dafür hatten sie im Geheimen geführt, um den Beamtenstäben gar nicht erst die Möglichkeit zu geben, das Papier zu verwässern. Bereits am 13. März 1979 trat die European Currency Unit ins Leben, kurz Ecu genannt. Dieser – der Ecu war historisch eine französische Münze – kursierte zwar nicht als Bargeld. Doch durfte ein jeder ein Bankkonto in Ecu eröffnen und Wertpapiere in Ecu ausgeben oder kaufen.
Fortan bremsten die nationalen und europäischen Bürokratien die Entwicklung. Auch leisteten die Notenbanken Widerstand, die um ihre Position kämpften. Ab 1. Juli 1990 kursierte dann nicht nur die Deutsche Mark in der DDR. Die D-Mark war nunmehr auch fest in die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion eingebunden. Knapp zwei Jahre später folgte der Vertrag von Maastricht, am 1. Januar 1999 trat der Euro ins Leben.
Krisen hemmen ein schnelleres Zusammenwachsen
Schneller wäre dies wahrscheinlich geschehen, hätte es tatsächliche und nicht bloß gefühlte Krisen gegeben. Die Währungsreformen nach den Inflationen der 20er-Jahre gelangen glücklicherweise überall schneller, ebenso die Integration der DDR nach dem Bankrott von 1989. In ruhigen Zeiten fallen dagegen Entscheidungen später, diskutiert man ausgiebiger, verschiebt auch manches, wenn man sich nicht einig wird. Über die Anpassung des deutschen Länderfinanzausgleichs an die größere Zahl Bundesländer wurde beispielsweise schon im Sommer 1990 gesprochen. 2020 tritt die Reform voraussichtlich in Kraft. Wer Europa der Langsamkeit zeiht, der sollte auch das Mahlen deutscher Mühlen betrachten.
Selbstverständlich hat auch der Euro Schwächen, ließ sich nicht alles Wünschenswerte durchsetzen. Das gilt aber für alle Ebenen der Politik, ebenso im Geschäftsleben, in Vereinen, in der Technik und anderswo. Der Kompromiss ist die Mutter allen menschlichen Fortschrittes. Nur Tiere und Pflanzen kennen keine Kompromisse, sieht man einmal davon ab, diesen Begriff auf die Symbiosen anzuwenden. Europa hat in den vergangenen 60 Jahren einen gewaltigen Weg zurückgelegt, der anderen Regionen der Welt als Vorbild dienen kann. Nicht nur der kleine Grenzverkehr geschieht längst reibungslos.
Text: Torsten Berndt, Abbildungen: Schwaneberger Verlag