Überraschendes Ergebnis
Gut 93 Prozent Wahlbeteiligung – der Wert stammt keineswegs aus einem Land mit Wahlpflicht. In Deutschland erreichte die Wahlbeteiligung vor 25 Jahren diese stolze Zahl. Erstmals in den gut 40 Jahren der DDR-Geschichte durften die Deutschen frei entscheiden, wem sie ihr Schicksal anvertrauten. Dass es sich um die einzige freie Wahl der DDR handelt, wie vielfach behauptet wird, stimmt allerdings nicht. Auf den 18. März 1990 folgte der 6. Mai, als die Wähler ihre kommunalen Vertreter selbst bestimmen konnten.
Das Wahlergebnis überraschte viele, zumindest jene, die den Umfragen Glauben schenkten. Dass die Demoskopen von Anbeginn auf zwei Risiken hingewiesen hatten, war nämlich schlichtweg untergegangen. Zum einen fehlte jeder Vergleichswert von früheren Wahlen. Die notwendige mathematische Bearbeitung der Rohdaten konnte also nur mit starken Einschränkungen erfolgen. Zum anderen erreichten die Mitarbeiter der Institute nur jene, die über einen Fernsprechanschluss verfügten, konnten also nur einen Teil der potenziellen Wähler befragen.
Daher glaubten viele, die im Herbst 1989 wiederbegründeten Sozialdemokraten würden das Rennen machen. Dass die Stimmung längst umgekippt war, bekam man eher mit, wenn man beispielsweise Gespräche auf den Marktplätzen oder in Bussen und Bahnen belauschte. Am Abend des 18. März stand dann fest, dass die CDU mit 40,8 Prozent der Stimmen klarer Wahlsieger war. Sie hatte zusammen mit der DSU – einer mit Hilfe der CSU gegründeten Partei, die 6,3 Prozent der Stimmen erreichte – und dem Demokratischen Aufbruch – er kam auf 0,9 Prozent – im Februar die Allianz für Deutschland ins Leben gerufen. Mit 192 von 400 Mandaten verfehlte das Bündnis die absolute Mehrheit nur knapp.
Die Sozialdemokraten gingen mit mageren 21,9 Prozent durchs Ziel, das Bündnis 90 gar nur mit 2,9 Prozent. Fast ein Sechstel der Wähler entschied sich für die SED, die sich inzwischen PDS nannte und 16,4 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte. Da es keine Sperrhürde gab, gehörten der Volkskammer Vertreter von zwölf Parteien und Bündnissen an.
Historisch interessant ist der Vergleich zwischen Altparteien und Neugründungen. Bis zum Herbst 1989 bildeten bekanntlich fünf Parteien gemeinsam die DDR-Regierung: die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED), die Christlich Demokratische Union Deutschlands (CDU), die Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD), die Liberaldemokratische Partei Deutschlands (LDPD) und die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NDPD). Schon wenn man deren ausgewiesene Ergebnisse zusammenzählt, kommt man auf 59,8 Prozent, also eine klare Mehrheit für die Altparteien. 5,3 Prozent der Stimmen erzielte zudem der Bund Freier Demokraten, in dem die LDPD mit zwei neuen Parteien zusammenarbeitete. Da deren Stimmen gemeinsam gezählt wurden, kann man nicht genau sagen, für wen die Bürger votieren wollten.
Die im Herbst 1989 gegründeten Parteien erreichten zusammen keine 30 Prozent der Stimmen. Gemeinsam mit der DSU, die erst Anfang 1990 gegründet wurde und in der friedlichen Revolution vom Herbst 1989 folglich keine Rolle gespielt hatte, konnten die neu gegründeten Parteien nur gut ein Drittel der Wähler auf sich vereinen. Bemerkenswerterweise wird diesen Werten – 60 Prozent für die Altparteien, ein Drittel für die neuen Parten – in den Rückblicken auf 1990 nur wenig oder gar keine Beachtung geschenkt.
Natürlich spielten bei den Entscheidungen der Bürger die Machtverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland eine Rolle. Ganz gleich, ob in West oder Ost, verspürte die CDU wenig Skrupel, den Wunsch nach schnellem Wohlstand in den Ostgebieten gegen alle ökonomische Vernunft rhetorisch zu unterstützen. Im Wahlprogramm der Allianz für Deutschland stand daher neben dem Versprechen, dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beizutreten, die Ankündigung, Ostmark-Sparguthaben im Verhältnis eins zu eins in harte Westmark umzutauschen. Ein jeder wusste, dass die Allianz für Deutschland auf Betreiben des CDU-Vorsitzenden und Bundeskanzlers Helmut Kohl entstanden war, und viele verstanden, wo sie ihr Kreuz machen sollten. Das konnten die anderen Parteien nicht bieten.
Letztendlich bildete der CDU-Vorsitzende Lothar de Maiziere eine Große Koalition aus Konservativen, Liberalen und Sozialdemokraten. Die Regierung hatte damit in der einzigen frei gewählten Volkskammer die für Verfassungsfragen wichtige Zweidrittelmehrheit. Somit konnten die Parteien, die in den Ostgebieten – etwas anders schaute es im Westen, vor allem in der Saarbrücker Staatskanzlei aus – allesamt die schnelle Vereinigung beider deutscher Teilstaaten befürworteten, gemeinsam den Beitritt zur Bundesrepublik beschließen. Die Bürgerrechtler, welche die Ausarbeitung einer gemeinsamen deutschen Verfassung befürworteten, vermochten dem nur ohnmächtig zuzusehen.
Das Wählervotum jedenfalls war eindeutig ausgefallen. Ebenso eindeutig sprach die Wahlbeteiligung für den Wunsch nach Freiheit und Demokratie. Die Bürger, die wenige Monate zuvor „Wir sind das Volk“ gerufen hatten, gaben klar zu verstehen, was sie wollten.
25 Jahre später heißt es aus eher selten berufenem Munde wieder „Wir sind das Volk“. Gerade in den Ostgebieten wirken derweil immer weniger Menschen an der politischen Willensbildung mit, die in einer Demokratie nunmal über Wahlen geschieht. Die Wahlbeteiligung sinkt kontinuierlich. In Sachsen nahm im vergangenen Jahr nicht einmal jeder zweite Wahlberechtigte sein Wahlrecht war. Von 93,4 Prozent Wahlbeteiligung in den Ostgebieten wagt wohl kaum noch jemand zu träumen.
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