Ein Genie voll Ironie (Teil 2)
Fortsetzung vom 21. November
Der Tod des Vaters im gleichen Jahr, der ihm ein recht ansehnliches Erbteil hinterließ, und die finanziellen Zuwendungen („pension“) aus der königlichen Schatulle seitens Philipp von Orléans, verschafften Voltaire finanzielle Unabhängigkeit. Er reiste in die Österreichischen Niederlande und besuchte den aus Frankreich verbannten Jean-Baptiste Rousseau. Dank der einflussreichen Marquise de Prie erhielt Voltaire im Mai 1725 den Auftrag, die Theateraufführungen zu den Hochzeitsfeierlichkeiten Ludwigs XV. zu organisieren. Dies gewährte ihm Einlass an den Hof von Versailles und eine weitere „pension“ aus den freigebigen Händen der jungen Königin. Als sich der aus altem Adelsgeschlecht stammende Chevalier de Rohan spöttisch bei Voltaire erkundigte, wie er denn zu seinem neuen Namen gekommen sei, erwiderte dieser ihm schnippisch: „Je commence mon nom, vous finissez le vôtre“ (Ich begründe meinen Namen, Sie beenden ihren). Völlig außer sich ließ er Voltaire von seinen Dienern verprügeln und veranlasste, als dieser vehement Satisfaktion forderte, eine erneute Inhaftierung in der Bastille. Die Berühmtheit Voltaires stimmte Ludwig XV. diesmal milde, sodass er unter der Bedingung, Frankreich zu verlassen, Voltaire die Freiheit schenkte.
Dieser machte sich auf den Weg nach England, wo er sehr schnell von der Freiheit des Landes fasziniert war, in dem die Religion zu den Privatangelegenheiten zählte und Königsmacht sowie Adelsprivilegien durch das Parlament eingeschränkt waren. Sehr schnell gelangte er in die höchsten gesellschaftlichen Kreise und wurde König Georg I. vorgestellt, der ihm gestattete, sein Epos über Heinrich IV. unter dem Titel „La Henriade“ der englischen Königin zu widmen. Ferner übte er sich eifrig im Englischen, studierte die Werke des Empirikers John Locke, des Physikers und Astronomen Isaac Newton und die Dramen William Shakespeares.
Ende 1728 kehrte er nach Frankreich zurück, zunächst aber nur nach Dieppe in der Normandie. Im Gepäck waren seine begonnenen „Lettres anglaises“ oder „Lettres philosphiques“, die als erste programmatische Schrift der Aufklärung galten und seine „Histoire de Charles XII., roi de Suède“ (Geschichte über Karl XII. von Schweden) sowie die Tragödien „Brutus“ und „Zaïre“. In den 1734 erschienen „Lettres philosophiques“ stellte er seinen Landsleuten England als Modell vor, was in den Augen der herrschenden Klassen einem Affront gleichkam. Darüber hinaus enthielt das Werk eine Streitschrift, in der Voltaire jansenistisches Gedankengut verurteilte, das eine Zügelung des von Natur aus aggressiven Menschen durch starke Autoritäten forderte. Die meist jansenistisch gesinnten Hohen Richter des Pariser Parlaments verboten daher das Buch und erließen Haftbefehl gegen den Autor.
Voltaire zog sich daraufhin zu seiner Geliebten Émilie du Châtelet (seit 1733) auf das kleine Schloss Cirey in der Champagne zurück. Sie – eine begnadete Naturforscherin und Mathematikerin – schärfte rasch den Blick Voltaires für die Naturwissenschaften. So reichten sie beide 1734 zu einem von der „Académie des sciences“ ausgeschriebenen Wettbewerb über die Natur des Feuers zwei Arbeiten ein. Angeregt durch die Interessen Émilies verfasste Voltaire die „Éléments de la philosophie de Newton“ (1736/37), in dem er dessen bahnbrechende und in Frankreich noch wenig bekannte Theorien vorstellte. Seine eigentliche Domäne blieb jedoch die Literatur und so entstanden während dieser Zeit die Stücke „Adélaïde du Guesclin“ (1734), „La Mort de César“ (1735), „Alzire“ (1736), „Mérope“ (1736), „Zulime“ (1740) und „Mahomet“ (1740). Letzteres wurde 1741 in Lille erfolgreich uraufgeführt, in Paris jedoch nach der dritten Aufführung abgesetzt. Die Königliche Zensur und Teile des katholischen Klerus sahen darin religionskritische Tendenzen, weil Mohammed als ein zynischer Despot gezeigt wird, der den Glauben zur Herrschaftssicherung missbrauchte, fanatisierte Jünger als politische Attentäter einsetzte und unliebsame „Aussteiger“ beseitigen ließ.
Bereits seit 1733 pflegte Voltaire mit dem Kronprinzen Friedrich von Preußen zu korrespondieren und galt nun als wichtigster Verbindungsmann. So wurde er nach Friedrichs Thronbesteigung mit der Aufgabe betraut, diesen an die Seite Frankreichs zurückzuholen, da Friedrich bereits 1742 seine erklärten Kriegsziele im Österreichischen Erbfolgekrieg (1740-1748) erreicht hatte und aus dem Bündnis gegen Habsburg ausgetreten war. Der Hof von Versailles stand Voltaire daher wieder offen und er fand in der neuen Mätresse Ludwigs XV. Madame de Pompadour eine einflussreiche Unterstützerin. So wurde Voltaire zum Königlichen Chronisten (historiographe du roi) und 1746 zum Königlichen Kammerherrn (gentilhomme de la chambre) ernannt. Damit wurde er offiziell in den Adelsstand erhoben. Im Sommer 1750 folgte Voltaire einer Einladung Friedrichs des Großen nach Sanssouci bei Potsdam. Er wurde anfangs wie eine hochrangige Persönlichkeit behandelt, aber das Verhältnis kühlte merklich ab, nachdem Friedrich 1751 von einem unerlaubten Wertpapiergeschäft seines Gastes erfahren hatte. Auch geriet dieser immer wieder in Streit mit den anderen Höflingen Friedrichs. Im Wortgefecht um die Originalität einer physikalischen Theorie kommt es schließlich zum Eklat: „J’aurai besoin de lui encore un an, tout au plus; on presse l’orange et on en jette l’écorce“, soll Friedrich später gesagt haben (Ich brauche ihn noch höchstens ein Jahr; man presst die Orange aus und wirft die Schale weg). Aber Friedrichs Schwester Wilhelmine vermochte 1757 zwischen den beiden Streithähnen wieder erfolgreich zu vermitteln, sodass sie wieder höfliche Briefe wechselten.
Das schwere Erdbeben von Lissabon (1755) veranlasste Voltaire zu seinem Langgedicht „Poème sur le désastre de Lisbonne“ in dem er den Optimismus seiner naturreligiösen Zeitgenossen in Frage stellte. Etwa zur gleichen Zeit erschien auch sein „Essai sur l’histoire générale et sur les mœurs et l’esprit des nations“ (Essay über die allgemeine Geschichte und die Sitten und den Geist der Nationen). Darüberhinaus arbeitete er ab 1756 gemeinsam mit Diderot und d’Alembert an der „Encyclopédie“.
1758 schrieb er seinen heute als bestes Werk geltenden philosophischen Kurzroman „Candide, ou l’optimisme“. Darin führte er den Leibniz’schen Optimismus und dessen Behauptung, „unsere Welt ist die beste aller möglichen Welten“, in der ihm eigentümlichen ironischen Manier ad absurdum und empfahl keine metaphysischen Luftschlösser zu bauen, sondern vielmehr seinen „Garten zu bestellen“. Ganz im Sinne seines Protagonisten entschloss sich Voltaire durch den Erwerb der Landgüter Ferney und Tourney (1758/1759) nahe Genf zu einem häuslichen Leben, indem er diese bis zu seinem Tod erfolgreich bewirtschaften ließ. In seinem 1764 erschienenen „Dictionnaire philosophique portatif“ (philosophisches Taschenlexikon) bündelte er seine Bibel- und Religionskritik. Er deckte darin zahlreiche Widersprüche innerhalb der Bibel sowie Schwachstellen der katholischen Theologie auf. Während ihn die Anhänger der Aufklärung für diesen Fundus an schlagkräftigen Argumenten schätzten, war er den katholisch-konservativen Kreisen umso verhasster. Als er 1778 starb, wollte man ihm ein kirchliches Begräbnis verweigern, doch fand er schließlich dank seines Neffen in geweihter Erde seine vorletzte Ruhe, ehe er 1791 in das Panthéon überführt wurde.