Philosophisches Dynamit
Eigentlich war Friedrich Nietzsche Professor der Klassischen oder Alten Philologie. Schon früh, mit nur 24 Jahren beschäftigte man den seit seiner späten Pennälerzeit leidenschaftlich mit der Antike Befassten als Wissenschaftler in Basel. Zu einer geistesgeschichtlichen, in die verschiedensten akademischen Disziplinen und in die Künste – von denen Nietzsche selbst besonders die Musik, speziell die Richard Wagners, liebte – hineinwirkenden Instanz wurde er jedoch ausserhalb der lateinischen und griechischen Sprach- und Literaturwissenschaft. Er wurde es als philosophischer Schriftsteller. Begriffe wie die „Umwertung aller Werte“, der „Wille zur Macht“ und „Übermensch“ oder seine Schriften mit den Titeln „Also sprach Zarathustra“, „Menschliches, Allzumenschliches“, „Jenseits von Gut und Böse“ und „Götzendämmerung – Wie man mit dem Hammer philosophiert“ – sie haben nicht nur aufgrund des Gehalts und der Originalität des Nietzscheschen Denkens ein bis heute großes Publikum gefunden und sind teilweise zu regelrecht geflügelten Worten geworden. Grund für die weltweite und rege Nietzsche-Rezeption ist vielmehr auch die wortgewaltige und eher dichterische als akademisch- philosophische, teilweise aphoristische Form der provokanten Werke des am 15. Oktober 1844 geborenen Pfarrersohnes, der das berühmte Postulat tätigte:„Gott ist tot.“ Dass ihm ein explosiver Charakter seiner Gedanken und Schriften bewusst war, kommt in einer anderen Äußerung zum Ausdruck, die aus der Feder Friedrich Nietzsches stammt. „Ich bin kein Mensch“, schrieb er, „ich bin Dynamit.“
In „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“, einer frühen Schrift von 1871, unterscheidet Nietzsche mit Bezug auf die zwei griechischen Götter Dionysos und Apollon zwischen den „dyonisischen“ und „apollinischen“ Kräften des Menschen. Das heißt, zum einen dem trieb- und rauschhaften, durch- und hervorbrechenden und zum anderen einem klarsichtigen und geordneten, nüchternen Lebensprinzip. Auch mit der „Genealogie der Moral“ kommt Nietzsche zur Annahme einer Perspektivität von Erkenntnis und moralischen Vorstellungen, die sich nicht nur als geschichtlich gewachsen zeigen, sondern neben der Vernunft auch mit tieferliegenden psychologischen Dispositionen des Individuums zusammenhängen. Der Wille zur Macht, in Idealform umgesetzt vom Übermenschen, bedeutet für Nietzsche in diesem Zusammenhang vor allem die Souveränität des Individuums angesichts verlorener Gewissheiten und metaphysischer, universeller Orientierungen. Der bekannte Satz zur Verabschiedung von zweifelhaft gewordener Religion und Gottesfurcht, der zunächst in „Die fröhliche Wissenschaft“ behandelt wird, kann in einem solchen Sinn der Lösung des Menschen von vermeintlich übergeordneten Vorgaben zugunsten selbstgefundener Werte verstanden werden.
Mit seinen skeptischen, vernunft- und dabei auch modernekritischen Überlegungen sowie seinen dekonstruierenden Bemühungen stellt Nietzsche einen Einfluss sowohl Sigmund Freuds und dessen Psychoanalyse als auch „postmoderner“ Denker, wie zum Beispiel Michel Foucault und Jacques Derrida, der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar. Im Kontext des Nationalsozialismus wurden gerade Nietzsches Begriffe und Gedanken zum Übermenschen und Willen zur Macht aufgegriffen. Dies jedoch weniger in ihrem tatsächlichen Inhalt als aufgrund der emphatischen, pathetischen und brachialen sowie dabei schwer zu verstehenden Formulierungen Nietzsches. Die nationalsozialistischen Verirrungen der Vorstellung einer Über- und Unterlegenheit von „Herren- und Untermenschen“ und „Rassen“ sowie der Gewalt gegenüber anderen, auch Kranken und Menschen in schwächerer Position, sind in den Arbeiten Nietzsches nicht gemeint.
Nietzsche, der kinderlos blieb und nie heiratete, obgleich er Cosima Wagner vielleicht mehr als freundschaftlich verehrte und der Schriftstellerin Lou-Andreas Salomé sogar einen Antrag machte, wurde keine 60 Jahre alt. Nicht nur hatte er schon in jungen Jahren unter körperlichen Beschwerden, besonders unter heftigen Kopfschmerzen – wahrscheinlich Migräne – und Magenbeschwerden zu leiden, weswegen er nach zehn Jahren der Lehrtätigkeit um die auch erfolgende Entbindung von seiner Baseler Professur bat. Das letzte Jahrzehnt seines Lebens verbrachte der so kreative Denker und pointierte Autor im Wahnsinn und geistiger Umnachtung sowie zeitweise in der Jenaer „Irrenanstalt“. Seine Schwester Elisabeth kümmerte sich zudem um ihn, bis er, mehrere Schlaganfälle waren vorausgegangen, im Jahr 1900 in Weimar starb. Da begann ein neues Jahrhundert, eines, das der Dichter-Philosoph Friedrich Nietzsche vorweggenommen hatte. In Deutschland erschien im Jahr 2000 eine Briefmarke zu seinem 100. Todestag, entworfen von Elisabeth von Janota-Bzowski nach einer Zeichnung von Edward Munch.
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