Tauwetter oder Konfrontation?
Als Nikita Sergejewitsch Chruschtschow im März 1958 auch Ministerpräsident der Sowjetunion wurde, hatte er eine bereits über zwei Jahrzehnte andauernde politische Karriere hinter sich. Sie hatte ihn in den 30er-Jahren zum Mitglied des Zentralkomitees (ZK) der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) und 1953 zu deren Vorsitzendem gemacht. Hervorstechende Ereignisse, die in seiner folgenden Amtszeit stattfanden, waren der Bau der Berliner Mauer 1961 und die Kuba-Krise im Jahr darauf. Auch war es speziell Chruschtschow, der innerhalb des politischen Systems der UDSSR in Richtung einer kritischen Betrachtung der Geschehnisse und Verhältnisse wirkte, zu denen es seit den 20er-Jahren im Rahmen des totalitären Regimes Josef Stalins gekommen war. Gleichzeitig hatte der an inhaltliche Linientreue gebundene politische Aufstieg des am 15. April 1894 geborenen Staatsmannes genau in dieser Zeit stattgefunden. Nicht nur in diesem Punkt zeigen sich in Nikita Chruschtschows Zeit als Regierungschef einer der beiden Weltmächte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts widersprüchliche Elemente.
Der zum Maschinenschlosser ausgebildete Chruschtschow initiierte unterschiedlich erfolgreiche Reformen, die im Besonderen eine ökonomische Bewährung des kommunistischen Systems der Sowjetunion und ein Gleichziehen mit den USA nicht nur im Bereich der Rüstung ermöglichen sollten. Er bezweckte darüberhinaus auch eine Überwindung der stalinistischen machtpolitischen Radikalität und Willkür, die im Zuge der brutalen Unterbindung von politischer Opposition und auf rücksichtlose Weise umgesetzter ökonomischer und sozialer Neuorganisationen Millionen Menschen in der Sowjetunion das Leben gekostet und zur Inhaftierung vieler anderer in Arbeitslagern geführt hatte.
Dabei galt es jedoch auch im politischen Kurs Chruschtschows, einerseits an der alleinigen Macht und dem programmatischen Gestaltungsmonopol der KPdSU innerhalb der Sowjetunion keinen Zweifel aufkommen zu lassen und sich andererseits gegenüber den USA und anderen westlichen Staaten sowie dem Kapitalismus zu behaupten. Daher standen etwaigen liberaleren politischen Absichten und Maßnahmen Chruschtschows stets auch innerparteiliche Zweifel und Gegner gegenüber, die 1964 schließlich neben anderen Faktoren zum vorzeitigen Ende seiner Regierungszeit führten und Leonid Breschnjew zu seinem Nachfolger werden ließen. Bezüglich tatsächlicher Abwendungen von staatspolitischer Kontrolle und Zensur in der Ära Chruschtschow spricht man manchmal von einer Phase des „Tauwetters“.
Als das sowjetische Militär im Herbst 1956 den ungarischen Volksaufstand gewaltsam beendete, zeigten sich allerdings zum einen Grenzen einer weniger autoritären sowjetischen Innenpolitik. Zum anderen wurde ganz besonders im Oktober 1962 die Fragilität einer „friedlichen Koexistenz“ von Ost und West sichtbar, von der Chruschtschow seit Mitte der 50er-Jahre programmatisch sprach. Die Kuba-Krise gilt als der Moment in der Geschichte des Kalten Krieges, in dem sich die Konfrontation der beiden Supermächte maximal zuspitzte und sich die Welt näher am Rand einer nuklearen militärischen Katastrophe befand als jemals sonst. Nachdem Chruschtschow die Stationierung von Mittelstreckenraketen auf Kuba eingeleitet und die USA eine Seeblockade der seit wenigen Jahren unter der Regierung Fidel Castros stehenden Insel eingerichtet hatte, drohte knapp zwei Wochen lang eine Eskalation, bezüglich derer die Welt einen atomaren Weltkrieg befürchtete.
Eingebunden in das Kräftemessen mit den USA hatte Chruschtschow seit 1958 von den Westmächten gefordert, Berlin zu verlassen und die Stadt vollständig der DDR zu überlassen. Einer Grenzschließung und einem Mauerbau, durch die dieser Anspruch nicht umgesetzt, aber Abwanderungen von DDR-Bürgern unterbunden werden konnten, stimmte er im Sommer 1961 zu.
In Amerika war Chruschtschow 1959 selbst einmal gewesen, als er zwei Jahre nach dem Start des Satelliten „Sputnik 1“ und wiederum zwei Jahre vor dem ersten Flug in das Weltall durch den Raumfahrer Juri Gagarin den über die Entwicklung der sowjetischen Raumfahrt besorgten amerikanischen Präsidenten getroffen hatte. Dieser hieß damals noch nicht John F. Kennedy, sondern Dwight. D. Eisenhower.
Wenngleich bis heute nicht letztlich geklärt wurde, ob er seinem Ärger während einer Vollversammlung der Vereinten Nationen im Jahr 1960 tatsächlich dadurch Luft machte, dass er mit seinem Schuh mehrfach auf den vor ihm stehenden Tisch schlug, galt Nikita Chruschtschow als unverblümter Redner und mitunter lautstarker diplomatischer Gesprächspartner. Auch während seines Amerikaaufenthaltes zeigte er sich nicht schüchtern und beklagte sich über einen nicht stattfindenden Besuch in Disneyland, der aus Sicherheitsgründen abgesagt worden war.