
Aus dem Labyrinth der Einsamkeit
âOhne Freiheit ist die Demokratie Despotie, ohne Demokratie ist die Freiheit eine ChimĂ€reâ
Dies sind die Worte des mexikanischen Dichters Octavio Paz, der so tief wie kein anderer die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Probleme Lateinamerikas durchdacht hat. Ihnen galt sein Sinnen und Trachten, ihnen sein schöpferisches Werk. Er wĂ€re heute 100 Jahre alt geworden. Am 31. MĂ€rz 1914 wurde er in Mexiko-Stadt geboren, in einem Jahr der kollektiven Aggression: Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges in Europa stand kurz bevor und die Mexikanische Revolution (1910 â 1919) erreichte ihre blutigste Phase. Schon bald nach seiner Geburt zogen die Eltern nach Mixcoac, einem Vorort von Mexiko-Stadt, um gemeinsam in dem Haus des GroĂvaters Ireneo Paz zu leben. Das Schreiben gehörte als fester Bestandteil zur familiĂ€ren Tradition: Ireneo war der Herausgeber einer liberalen Zeitung und Verfasser zahlreicher historischer Novellen, sein Sohn erst Journalist, spĂ€ter Aktivist, der fĂŒr die Rechte der Kleinbauern, der Campesinos eintrat.
Aufgrund der verĂ€nderten politischen Lage emigrierte die Familie 1918 in die Vereinigten Staaten, erst nach San Antonio, dann nach Los Angeles, wo sich Octavios Vater dem AnfĂŒhrer der Campesinos Emiliano Zapata anschloss.
Erst zwei Jahre spĂ€ter kehrten sie nach Mixcoac zurĂŒck. Octavio besuchte dort die katholische Grundschule und spĂ€ter das britische Williams College â damals die beste Schule Mexikos. Aber nicht in den elitĂ€ren Bildungseinrichtungen, sondern in der groĂvĂ€terlichen Villa entdeckte er die literarischen Klassiker, dort brachte ihm Ireneo die Geschichte und Kultur seiner Heimat nĂ€her. So erinnerte er sich 1990 in seiner Nobelpreis-Rede: âIch lebte in einem Vorort von Mexiko-Stadt, in einem alten verfallenen Haus, das einen dschungelgleichen Garten hatte und ein groĂes Zimmer voller BĂŒcher. Erste Spiele und erster Unterricht. Der Garten wurde bald zum Mittelpunkt meiner Welt, die Bibliothek zu einer Zauberhöhleâ.
Seinen ersten Gedichtband âLuna silvestreâ (wilder Mond), der deutlich den Einfluss des spanischen Schriftstellers Juan RamĂłn JimĂ©nez erkennen lĂ€sst, publizierte er 1933.
Mit dem Buch âÂĄNo pasarĂĄn!â (sie werden nicht durchkommen), dem Motto der Republikanischen Armee, schloss er sich 1936 zu Beginn des Spanischen BĂŒrgerkrieges einer Gruppe antifaschistischer Dichter an, und unterstĂŒtzte damit das links-liberale WahlbĂŒndnis, die âFrente Popularâ (Volksfront). Aber der starke Gegensatz zwischen seinem lautstarken politischen Beitrag und dem langen Liebesgedicht âRaĂz del hombreâ (Wurzel des Menschen), das er im folgenden Jahr veröffentlichte, zeigte, dass er sich noch immer in einem inneren Zwiespalt befand: Sollte sich die Poesie fĂŒr gesellschaftliche Belange einsetzen oder aber nur persönlichen Zielen dienen?
Mit âRaĂz del hombreâ meldete sich auch erstmals ein bedeutender Poet zu Wort, kein geringerer als der Mexikaner Jorge Cuesta, GrĂŒnder des Dichterzirkels âLos ContemporanĂ©osâ (die Zeitgenossen), der die Arbeit des jungen Paz auĂerordentlich lobte. Jedoch verlieĂ Octavio Paz in dieser Zeit, wie er spĂ€ter erklĂ€rt, aus heiterem Himmel âseine Familie, seine Studien und Mexiko-Stadtâ. WĂ€hrend des Aufenthaltes in YucatĂĄn grĂŒndete er eine Schule fĂŒr die Kinder der Campesinos und kommt erstmals mit Elend und Armut der Eingeborenenkultur in BerĂŒhrung. Er verfasste dort sein erstes groĂes Gedicht âEntre la piedra y la florâ (Zwischen dem Stein und der Blume, 1937), in dem er das Leid der Bauern unter dem Joch der habgierigen Gutsbesitzer beschreibt.
Im Juli 1937 folgte er einer Einladung des renommierten chilenischen Dichters Pablo Neruda zum Kongress antifaschistischer Schriftsteller nach Madrid. Dort lernte er nicht nur viele spanische Autoren â unter ihnen Antonio Machado und Luis Cernudo â sondern auch andere zeitgenössische vom Rang eines AndrĂ© Malraux kennen. Mit der Besiegelung des Hitler-Stalin-Paktes (1939) und der Ermordung Trotzkis durch den sowjetischen Geheimdienst (1940) endete seine Liaison mit der politischen Linken. Doch schafft er es, den Wirren zum Trotz, die Literaturzeitschrift âTallerâ (Werkstatt) zu grĂŒnden. Dieser war streng genommen keine surrealistische Zeitschrift, obwohl der Versuch, die Poesie âlieber zu einer vitalen AktivitĂ€t, als einer bloĂen expressiven Ăbungâ zu machen, ihn der Strömung sehr nahe brachte.
WĂ€hrend der nĂ€chsten Jahre schrieb Paz zwei weitere lange Gedichte, âBajo tu clara sombraâ (Unter deinem klaren Schatten, 1935), ein Liebesgedicht, das den Einfluss der deutschen Romantiker auf sein Schaffen zeigte. Mit der Veröffentlichung von âA la orilla del mundoâ (am Rand der Welt, 1942) wurde er zum wichtigsten jungen Dichter Mexikos, aber auch zum politischen AuĂenseiter. Daher bewarb er sich, in Anbetracht der schwierigen Lage, erfolgreich fĂŒr ein Guggenheim-Stipendium und ging nach Berkeley in Kalifornien.
Dort machte er eine fĂŒr ihn völlig neue Erfahrung: Das Leben als Mexiko-Amerikaner. Die extreme Entfremdung in den Vereinigte Staaten veranlasste ihn, âEl laberinto de la soledadâ (Labyrinth der Einsamkeit, 1950) zu schreiben, sein weitaus bekanntestes Werk, in dem er die mexikanische und lateinamerikanische IdentitĂ€t analysiert: âSeit zwei Jahrhundertenâ, so sagt er, âringen die besten Lateinamerikaner um eine umfassende soziale, politische und geistige Reform. Modernisierung ist ihr Ziel. Aber so lang wie der Kampf, so lang ist die Reihe der IrrtĂŒmer ĂŒber die geschichtliche Wirklichkeitâ.
1945 trat er in den diplomatischen Dienst Mexikos ein und residierte in dieser Funktion bis 1951 in Paris. Diese Jahre gehören gewiss zu den bedeutendsten in seinem Leben als Schriftsteller, da er dort seinem geistigen Mentor, dem Surrealisten AndrĂ© Breton begegnete, und auch andere prominente Schriftsteller wie Samuel Beckett, Albert Camus und Henri Michaux kennenlernte. Sein schöpferisches Werk bringt dies am deutlichsten zum Ausdruck, denn er beendet in dieser Zeit des intellektuellen Austausches zwei seiner wichtigsten BĂŒcher: âLibertad bajo palabraâ (Freiheit auf Ehrenwort, 1949) und âÂżAguila o sol?â (Adler oder Sonne, 1951).
Den Jahren in Europa und den Vereinigten Staaten folgte ein kurzer Aufenthalt in Neu Delhi, dann Tokio, wo er beinahe ein Jahr verweilte. Bereits in seinem nĂ€chsten Buch âSemillas para un himnoâ (Samenkörner fĂŒr eine Hymne, 1954) sind die EinflĂŒsse der japanischen Kultur deutlich erkennbar.
Nach neunjĂ€hriger Abwesenheit kehrte er nach Mexiko zurĂŒck, wo sich KĂŒnstler und Intellektuelle inzwischen nach Möglichkeiten umsahen, nationale Traditionen mit internationalen Strömungen zu verbinden, ohne aber deren AuthentizitĂ€t aufgeben zu mĂŒssen. Bereits in âSemillas para un himno, 1954â wurde diese Suche deutlich, mit dem âPiedra de solâ (Sonnenstein, 1957), seinem wichtigsten Werk, erreicht sie ihren Zenit: Eine unterbrochene Reihe von Liebesbegegnungen bewahrt darin das Selbst vor der VergĂ€nglichkeit. Die 584 elfsilbigen Verse des Gedichtes entsprechen dabei der 584 Tage wĂ€hrenden Umlaufzeit der Venus.
Nach der Trennung von seiner Frau kehrt Paz 1959 nach Paris zurĂŒck, es folgt ein sechsjĂ€hriger Aufenthalt in Neu Delhi, als mexikanischer Botschafter, âeine Zeit fortwĂ€hrender Entdeckungenâ, wie er spĂ€ter schreibt.
Im Oktober 1968 quittiert er aus Protest gegen das Massaker von Tlatelolco, bei dem die Mexikanische Regierung auf unbewaffnete Studenten schieĂen lieĂ, seinen Dienst und wurde damit in ganz Lateinamerika zum Symbol innerer Freiheit und moralischer IntegritĂ€t.
Er unterrichtete zunĂ€chst einige Jahre an UniversitĂ€ten in Europa und den Vereinigten Staaten, kehrte dann aber wieder in die Heimat zurĂŒck. Dort grĂŒndete er die Zeitung âPluralâ und begann mit der Ausarbeitung einer, die gesamte mexikanische und lateinamerikanische Gesellschaft umfassenden, moralischen, politischen und sozialen Kritik. Er grĂŒndete die âVueltaâ (Drehung, 1976), eine der einflussreichsten, politischen und literarischen Zeitschriften der Welt oder verfasste Essays wie âEl ogro filantrĂłpicoâ (der menschenfreundliche Menschenfresser). Die beste Zusammenfassung dieser Schaffensperiode ist âSor Juana Ines de la Cruz o las trampas de la feâ (Schwester Juana oder die Fallstricke des Glaubens), die Biografie einer Nonne aus dem 17. Jahrhundert, welche fĂŒr ihre Schriften von der Kirche verfolgt wurde.
FĂŒr sein vielseitiges Werk wurde Octavio Paz mehrfach ausgezeichnet: So erhielt er 1977 den Jerusalem-Preis fĂŒr die Freiheit des Individuums in der Gesellschaft, 1981 mit dem Cervantes-Preis den wichtigsten Literaturpreis in der Spanisch sprechenden Welt, 1984 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 1990 als krönenden Abschluss seines Ćuvres den Nobelpreis fĂŒr Literatur.
Am 19. April 1998 starb Octavio Paz nach einem langen und erfĂŒllten Leben in Mexiko-Stadt.