Idealismus und Fantasiereichtum
Selma Lagerlöf wurde am 20. November 1858 auf einem Gutshof in Schweden geboren. Auf Wunsch des Vaters, eines Offiziers und Gutsbesitzers, besuchte sie in Stockholm zunächst eine höhere Schule und schließlich die Königliche Bildungsanstalt für Lehrer. Im Anschluss daran arbeitete sie als Grundschullehrerin. Die Welt der Gutshöfe und die Bildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen waren maßgebliche Inspirationen ihres literarischen Schaffens. Die Besserung des Menschen zu etwas Höherem waren die Motive ihrer Arbeit. In ihrem Elternhaus wuchs sie mit einer Vielzahl von Erzählungen und Sagen auf. In diesen Geschichten kamen Motive von heruntergekommenen Offizieren und trinkenden Pfarrern vor.
Die so gewonnene Gedankenwelt hielt sie in ihrem ersten Roman „Gösta Berling“ fest. In diesem Buch ging es um eine Gruppe heruntergekommener Soldaten und degenerierter Adeliger. Zu ihrem Anführer wurde der ehemalige Pfarrer Gösta Berling. Auf einem Gutshof fanden sie einen Rückzugsraum und erlebten gemeinsam etliche Abenteuer. Mit diesen Episoden wuchs der Protagonist schließlich über sich selbst hinaus und machte eine persönliche Entwicklung hin zu einem besseren Menschen durch. Obwohl die Kritik zunächst zurückhaltend und distanziert auf diesen Roman reagierte, begründete er den literarischen Ruhm der damaligen Grundschullehrerin Selma Lagerlöf. Gösta Berling wurde zu einem der meistgelesenen Werke der schwedischen Literatur.
Ein Stipendium des schwedischen Königs ermöglichte ihr eine ausgedehnte Studien- und Reisetätigkeit nach Italien, Palästina, Belgien, Deutschland und die Schweiz. Schließlich ließ sie sich als freie Schriftstellerin in ihrer schwedischen Heimat nieder. Ihren literarischen Ruf in Deutschland begründete „Jerusalem“. Dieser Roman handelte von einer Gruppe Aussteiger, die nach einem religiösen Erweckungserlebnis ins Heilige Land auswanderten, um sich einer Sekte anzuschließen. Dies Buch ist wiederum von persönlichen Erfahrungen Lagerlöfs inspiriert. Nahe ihres damaligen Wohnortes kam es zu einer derartigen Auswanderungswelle. Die Migration ins Heilige Land nach einem religiösen Erweckungserlebnis war eine damals durchaus verbreitete Bewegung.
Ihr wohl bekanntestes Werk wurde „Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen“. Es erzählte die Geschichte eines kleinen Jungen, der zu allerlei Streichen aufgelegt war. Ein Wichtelmännchen bestrafte ihn für seine Bösartigkeiten, indem er ihn zum Zwerg schrumpfen ließ. So geschrumpft unternahm er mit den Gänsen, die nach Lappland zogen, eine phantastische Reise, auf der einige Abenteuer zu bestehen waren. Schließlich machte auch Nils eine positive Wandlung durch.
„Nils Holgersson“ ist nicht nur ein berührender Roman über die Entwicklung eines kleinen Jungen, sondern eine liebevolle Einführung in die Schwedische Landeskunde. Selma Lagerlöf schrieb dieses Buch aus ihrer Erfahrung als Lehrerin. Sie wollte mit diesem Buch den Kindern einen neuen Zugang zur Geografie vermitteln. Mit jeder Episode des Romans wurde eine Landschaft Schwedens vorgestellt. Geografie, Geschichte – auch die regionalen Sagen und Überlieferungen – sowie politische und wirtschaftliche Entwicklungen wurden darin detailreich beschrieben. Literarisch war die besondere Bedeutung „Nils Holgerssons“, dass es als erstes Buch in der neuen schwedischen Rechtschreibung geschrieben wurde, es wurde in über 30 Sprachen übersetzt. Bekannt geworden ist es bis heute nicht zuletzt durch die putzige Zeichentrickverfilmung.
Lagerlöfs Romane erweckten spontan den Eindruck, recht trivial geschrieben zu sein. Bei genauerer Lektüre war jedoch zu merken, dass Selma Lagerlöf mit vielen ausgefeilten Erzähltechniken arbeitete. Typisch für ihre Bücher ist die Erzählung in einer Serie von aneinandergereihten Episoden, die für sich abgeschlossen wirken, aber zu einer großen Erzählung zusammenspielen. Die besonderen literarischen Leistungen Selma Lagerlöfs wurden schnell gewürdigt. In der Laudatio zur Verleihung des Literaturnobelpreises 1909 wurde auf ihren besonderen Idealismus, Fantasiereichtum und die seelenvolle Darstellung in ihrem Werk hingewiesen. 1914 wurde sie in die Schwedische Akademie gewählt. Ihr wurden Ehrendoktorwürden an den Universitäten Uppsala und Greifswald für ihr literarisches Schaffen verliehen.
Nach der Verleihung des Nobelpreises sah sich sich zu verstärkten öffentlichen Interventionen genötigt. Ein großes Thema für Selma Lagerlöf war das Engagement für den Frieden. Schon in ihrem Erstlingswerk „Gösta Berling“ wurden ehemalige Soldaten porträtiert, die ihre Kriegserfahrungen nie bewältigt haben. Ihr Roman „Das heilige Leben“ spielt vor der Kulisse der Schlacht am Skagerrak. Schockierend waren die toten Seeleute, die an der schwedischen Küste angeschwemmt wurden. Einer der Protagonisten meldete sich freiwillig, den gefallenen Seeleuten eine würdige Bestattung zu ermöglichen. Der Ausbruch des Krieges verursachte bei ihr einen derartig großen Schock, dass sie zunächst in eine Schreibblockade verfiel. Nach und nach überwand sie diese und schrieb dieses von Abscheu gegen den Krieg und Hoffnung auf Frieden geprägte Buch nieder.
Das Schweden der damaligen Zeit lebte in einer Phase von politischer Stabilität und Frieden. Die außenpolitische Neutralität war allerdings eher pragmatischer Art. Da die politische Führung durchaus versucht war, in einigen Konflikten militärisch zu intervenieren – z.B. auch im Ersten Weltkrieg auf deutscher Seite – war auch im vermeintlich neutralen Schweden pazifistisches Engagement notwendig.
Das war aber nicht das einzige Feld, in dem sie intervenierte. Auf dem Internationalen Frauentag in Stockholm 1911 hielt sie die aufsehenerregende Rede „Heim und Staat“ in der sie die weibliche Sphäre eines behüteten Zuhauses der „männlichen Schöpfung“ eines gewaltsamen Staates gegenüberstellte. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in Deutschland verhalf sie Verfolgten des NS-Regimes zur Flucht nach Schweden. Sie war auch praktisch in der lokalen Armenfürsorge tätig und unterstützte die kriegsgeschüttelte Bevölkerung Finnlands. Im Zuge der Aufregung um diese Kriegsopferfürsorge erlitt sie auf dem Gutshof, auf dem sie auch geboren wurde, einen Schlaganfall, an dem sie am 16. März 1940 verstarb.