Chemiker macht physikalische Entdeckung
„Es wäre denkbar, daß bei der Beschießung schwerer Kerne mit Neutronen diese Kerne in mehrere größere Bruchstücke zerfallen, die zwar Isotope bekannter Elemente, aber nicht Nachbarn der bestrahlten Elemente sind.“
Ida Eva Noddack zählte zu den ersten Frauen in Deutschland, die Chemie studierten und ihre Ausbildung mit der Promotion abschlossen. Gemeinsam mit ihrem Mann Walter Noddack und dem Röntgenologen Walter Berg entdeckte sie 1925 die Elemente der Ordnungszahlen 43 und 75. Während das Rhenium Anerkennung fand, scheiterten anderswo alle Versuche, den Nachweis des Elementes Nummer 43, von den Dreien „Masurium“ genannt, zu reproduzieren. Erst zwölf Jahre später gelang dies. Noddacks Experimente waren zu dem Zeitpunkt weitgehend vergessen; das Element erhielt den Namen Technetium.
1934 veröffentlichte Ida Noddack den eingangs zitierten Satz, der zum Durchbruch in der Atomphysik hätte verhelfen können – wenn sie oder jemand anderes versucht hätte, die Aussage experimental zu untermauern. Doch galt ein Zerfall der Atome seinerzeit als ausgeschlossen, sodass niemand Noddacks Aussage größere Beachtung schenkte. Die Chemikerin geriet in Vergessenheit, zumal ihr auch die erstmalige Isolierung und Beschreibung des Rheniums keinen bleibenden Ruhm verschaffte.
Als Entdecker der Kernspaltung ging Otto Hahn in die Geschichte ein. 1938 gelang ihm gemeinsam mit Fritz Straßmann, seinem Assistenten, der Nachweis im Experiment. Nach dem Beschuss einer Uran-Probe mit Neutronen entdeckten sie Spuren von Barium. Weitere Untersuchungen bestätigten die Erkenntnis. Nach der Veröffentlichung entwickelten Lise Meitner und Otto Robert Frisch die theoretische Erklärung. Eine der wichtigsten physikalischen Entdeckungen des 20. Jahrhunderts verdanken wir also einem Chemiker, der auf den Spuren einer Chemikerin wandelte, von deren Aussage er wohl nichts gewusst hatte.
Otto Hahn, geboren am 8. März 1879, interessierte sich bereits als Jugendlicher für die Chemie. Mit 15 begann er zu experimentieren und überzeugte nach dem Abitur seinen Vater, dass ein Studium der Chemie und Mineralogie ihm mehr zusagen würde als das vorgesehene Studium der Architektur. Daneben belegte Hahn in Marburg Physik und Philosophie. Bereits 1901 promovierte er über „Bromderivate des Isoeugenols“. Am University College London, das er kurz darauf vor allem zur Verbesserung der Sprachkenntnisse besuchte, kam er mit der jungen Radiochemie in Kontakt und machte scheinbar 1905 seine erste Entdeckung. Hahns „Radiothorium“ entpuppte sich aber als Thorium-Isotop, was ihm und anderen Chemikern aber erst bewusst wurde, nachdem Frederick Soddy 1913 über die Isotopie publiziert hatte. Als Mitarbeiter im Montrealer Labor von Ernest Rutherford wies Hahn weitere Isotope nach.
1906 kehrte Hahn nach Deutschland zurück und wurde Assistent Emil Fischers an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin. Er entdeckte weitere Isotope, darunter das Radiumisotop 228Ra, das in der medizinischen Strahlentherapie weite Verbreitung fand. Derweil habilitierte sich Hahn. 1908/09 legte er die korrekte Deutung des radioaktiven Rückstoßes vor, den die Physikerin Harriet Brooks bereits 1904 beobachtet, aber falsch erklärt hatte. Gemeinsam mit Lise Meitner, die seit 1907 in Berlin arbeitete, forschte er weiter an Elementen und Isotopen. Ab 1910 Professor, übernahm er 1912 die Leitung der radiochemischen Abteilung des neuen Kaiser-Wilhelm-Institutes.
Tragisch verliefen die ersten Kriegsjahre. Wie andere Chemiker wurde Hahn eingezogen und musste Fritz Habers Experimente mit Chemiewaffen begleiten und unterstützen.
1916 wurde er entlassen und konnte in Berlin seine Forschungen fortsetzen. Gemeinsam mit Meitner isolierte er eine langlebige Aktivität des später Protactinium genannten Elementes. Eine kurzlebige Aktivität hatten bereits 1913 Kazimierz Fajans und Oswald Helmut Göhring entdeckt. 1921 konnte Hahn die Kernisomerie beschreiben, aber nicht deuten; dies gelang erst 1936 Carl-Friedrich von Weizsäcker. In den zwanziger Jahren systematisierte Hahn die Forschung; die „Angewandte Radiochemie“, wie er den Zweig nannte, sollte allgemeine chemische und physikalisch-chemische Fragen beantworten. Aus Vorlesungen, die er 1933 während einer Gastprofessur an der Cornell University in Ithaka, New York, gehalten hatte, leitete er das Lehrbuch „Applied Radiochemistry“ ab, das fortan Generationen als Leitfaden diente.
Während der Jahre des Hitler-Regimes half Hahn verschiedenen Kollegen bei der Flucht aus Deutschland, unter anderem Lise Meitner. Zugleich setzte er aber seine Forschungen fort, obwohl ihm spätestens mit Entfesselung des Zweiten Weltkrieges hätte bewusst werden müssen, dass die Machthaber von Atomwaffen träumten. Hahn gehörte zwar nicht zu den Wissenschaftlern, die das Vorhaben vorantrieben; diesbezüglich haben Werner Heisenberg und Carl-Friedrich von Weizsäcker mehr Schuld auf sich geladen. Hahn wirkte am so genannten Uranprojekt aber mit. Dass Deutschland keine Atombombe bauen konnte, war wohl zum einen auf glückliche Fügungen zurückzuführen, beispielsweise einige Interpretationen, die in die Sackgasse führten, zum anderen auf die zeittypischen erratischen Entscheidungen von Politik und Militär. In Spaltversuchen gelang es Hahn während der Kriegsjahre, weitere 25 Elemente und mehr als 100 Isotope zu belegen.
Die Briten internierten unmittelbar nach Kriegsende die Wissenschaftler unweit Cambridges. Dort erfuhr Hahn vom Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki und gehörte unter den Internierten zur Minderheit, die eine persönliche Verantwortung für die Leiden der japanischen Zivilbevölkerung spürte und bekannte. Den kurz darauf nachträglich für 1944 verliehenen Nobelpreis für Chemie konnte er wegen der Internierung erst 1946 entgegennehmen.
Im Januar 1946 durften die Wissenschaftler nach Deutschland zurückkehren. Hahn nahm die Forschungen wieder auf und fungierte als Gründungspräsident der Max-Planck-Gesellschaft, der Nachfolgerin der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Dank seiner internationalen Reputation konnte er der Max-Planck-Gesellschaft schnell zu weltweiter Anerkennung verhelfen. Inwiefern sein politisches Engagement gegen die atomare Aufrüstung dazu beitrug, ist umstritten. Von seiner Auffassung, dass die militärische Nutzung von Forschungsergebnissen einen Missbrauch der Wissenschaft darstelle, konnte er nämlich seinerzeit nur eine Minderheit überzeugen. Die Mehrheit dachte anders, wenn auch wohl nicht ganz so primitiv wie Franz-Josef Strauß, der Hahn als „alten Trottel“, titulierte, der nachts nicht schlafen könne, wenn er an Hiroshima denke. Dass die Bundeswehr keine Atomwaffen bekam, war denn auch keineswegs auf die am 12. April 1957 verbreitete Göttinger Erklärung von 17 führenden westdeutschen Atomwissenschaftlern gegen die nukleare Aufrüstung zurückzuführen. Vielmehr misstrauten die Westalliierten den Deutschen. International unterstützte Hahn unter anderem den Appell Linus Paulings an die Vereinten Nationen. Pauling bezeichnete Hahn später als „eines meiner Vorbilder“.
Mit 81 Jahren legte er 1960 die Präsidentschaft der Max-Planck-Gesellschaft nieder und wurde zum Ehrenpräsidenten gewählt. Mitglied und Ehrenmitglied war er in 45 Akademien und wissenschaftlichen Gesellschaften weltweit, bekam ferner 37 hohe Orden und Medaillen verliehen und wurde Ehrenbürger von Berlin, Frankfurt am Main und Göttingen. Zweifelhafte Ehrungen lehnte er ab, so die 1957 angetragene Ehrenbürgerschaft Magdeburgs und die Ehrenmitgliedschaft in der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften. Auch den Vorschlag, Theodor Heuss im Amt des Bundespräsidenten zu folgen, wies er zurück. „Zwei Achtziger in Bonn? Einer reicht schon voll und janz …“, erklärte er.
Am 28. Juli 1968 verstarb Otto Hahn hochbetagt in Göttingen.
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