Drei Tage am Eiger
Unglaublich steil, dunkel und stark vergletschert. Hohe Steinschlags- und Lawinengefahr, schnelle und drastische Wetterumschwünge. Im Jahr 1938 galt die Nordwand des fast 4000 Meter hohen Eigers in den Schweizer Alpen als unberechenbar. Und als tödlich, als „Mordwand“. Erst zwei Jahre zuvor war dort die Vierer-Seilschaft um den deutschen Toni Kurz qualvoll zu Tode gekommen.
Wie jene Männer waren auch die Österreicher Heinrich Harrer und Fritz Kasparek und die beiden Deutschen Andreas „Anderl“ Heckmair und Ludwig Vörg im Sommer 1938 nicht nur ehrgeizige Bergsteiger, die den vorläufigen Höhepunkt ihrer Abenteuerlust erreichten. Sie waren es auch in einer Zeit, in der Hitlers Deutschland sich und den Anschluss Österreichs mit der Erschließung alpinen Terrains durch seine unerschrockenen jungen Männer zu inszenieren suchte. Die Durchsteigung der Eiger-Nordwand hatte Hitler spätestens 1936 zur nationalsozialistischen Mission erklärt.
Jenseits der nationalsozialistischen Propaganda war nach dem Unglück von 1936 und nicht nur den Toden der Münchner Max Sedelmeyr und Karl Mehringer im Jahr davor allerdings schon diskutiert worden, ob weitere Versuche, die Wand zu bezwingen, nicht alpinistischer Verblendung entsprängen und zum Scheitern verurteilt seien. Ob man sie nicht verbieten müsse.
Nach der ununterbrochenen, drei Tage dauernden Anstrengung des Kletterns, Stufenschlagens und Biwakens bei eisigen Temperaturen hatten es Vörg und Heckmair, Kasparek und Harrer am 24. Juli 1938 aber tatsächlich über die 1650 Meter hohe Eiger-Nordwand auf den Gipfel geschafft. Begonnen hatten eigentlich Zweier-Teams, die sich dann zusammentaten, um Kraft und Arbeit zu teilen und von der unterschiedlichen Ausrüstung der anderen zu profitieren.
Die Entwicklungen im Bereich des alpinistischen Handwerkszeugs sorgten in den nächsten 75 Jahren im Übrigen auch für eine heute völlig veränderte Situation an der Eiger-Nordwand. Führende Bergsteiger der Gegenwart sind durchaus nicht mehr damit beschäftigt, ob eine Durchsteigung der einst unbezwingbaren Nordseite möglich ist, sondern eher damit, wie schnell sich eine solche mit modernster Ausrüstung bewerkstelligen lässt. Dabei liegt man mittlerweile bei zweieinhalb Stunden.
Auch nach 1938 kam es aber natürlich noch zu tragischen Unfällen. Und nach den Dramen der dreißiger Jahre sorgten besonders die Todesfälle zweier deutscher und eines italienischen Bergsteigers im Jahr 1957 dafür, dass die Eiger-Nordwand ihren Schrecken nie verlor. Der einzige Überlebende, der Italiener Claudio Corti, wurde dabei verdächtigt, seine deutschen Kollegen in den Tod gestoßen zu haben, um sein eigenes Leben zu retten.
Von den Pionieren des eisigen Sommers 1938 erlangte wohl Heinrich Harrer die größte Berühmtheit. Er publizierte über die Jahrzehnte zu seinen zahlreichen Expeditionen. Sein 1952 veröffentlichter Welterfolg „Sieben Jahre in Tibet“ wurde im Jahr 1997 mit Brad Pitt in der Rolle Harrers verfilmt. Im Zuge dessen wurde auch die Frage nach einem ideologischen Antrieb und dem Nutzen, den die Helden von 1938 für ihre alpinistischen Karrieren und Biographien aus der nationalsozialistischen Rahmung des historischen Erfolges gezogen hatten, verstärkt thematisiert. Vor allem Harrers frühe Verbindungen zur nationalsozialistischen Partei gerieten dabei in die Kritik.
Wie Heckmair wurde Harrer fast hundert Jahre alt und lebte bis 2006. Ihre ehemaligen Gefährten hingegen waren schon früh gestorben. Ludwig Vörg kam als Soldat im Russlandfeldzug von 1941 ums Leben. Fritz Kasparek verunglückte 1954 in den peruanischen Anden. Gemeinsam hatten sie eine der „klassischen Nordwände“ – neben der Eiger-Nordwand die Nordwände der Grandes Jorasses und des Matterhorns – bezwungen und damit, wie Kasparek und Heckmair sagten, entscheidend zur Lösung eines der „drei letzten Probleme der Alpen“ beigetragen.