Tochter des böhmischen Militäradels
„Von einem Balkon unter den Linden sah ich den Einzug der aus Frankreich heimkehrenden Truppen. Ich habe das Bild im Gedächtnis voll Sonnenschein, Jubel, flatternden Fahnen, gestreuten Blumen, Triumphbogen – ein hohes historisches Freudenfest.“
Worte aus dem Jahr 1870. Deutschland hatte Frankreich vernichtend geschlagen. Der Weg zur Schaffung eines Bundesstaates unter preußischer Führung war frei. Die Zeremonie im Spiegelsaal von Schloss Versailles stand zwar noch bevor. Dem kollektiven Jubel vermochten aber nur wenige zu widerstehen. Auch Bertha Sophia Felicita Gräfin Kinsky von Wchinitz und Tettau stimmte in den Chor ein.
Gegen Krieg und Militär zu opponieren, war der späteren Trägerin des Nobelpreises für Frieden nämlich keineswegs in die Wiege gelegt. Im Gegenteil: Sie stammte aus dem böhmischen Militäradel und akzeptierte die militaristische Grundeinstellung ihres Umfeldes lange Jahre vorbehaltlos. Krieg und Gewalt hatten für sie nichts Bedrohliches, sondern waren eher Abenteuer und Spektakel. Erst eigenes Erleben führte zu einem Umdenken.
Der Vater, Franz Joseph Graf Kinsky von Wchinitz und Tettau, war bereits vor der Geburt der Tochter 75-jährig verstorben. Wie viele Angehörige der gräflichen Linie der Kinskys hatte er beim Militär Karriere gemacht, allerdings nicht standesgemäß geheiratet. Nach seinem Tod ließen die böhmischen Adligen Sophia Gräfin Kinsky spüren, dass sie bürgerlicher Herkunft war, eine „Geworfene“ oder „Ungeborene“, wie es in der Sprache der Personen von Stand hieß. Dennoch ermöglichte die Familie der am 9. Juni 1843 geborenen Tochter eine aristokratische Ausbildung. Als Jugendliche und junge Erwachsene kannte die Komtesse Kinsky schließlich nur ein Ziel: in ein altehrwürdiges Adelsgeschlecht einzuheiraten. Das gelang ihr nicht.
Mit 30 Jahren musste sie eine Stelle suchen, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Die Mutter hatte das väterliche Vermögen weitgehend verloren, unter anderem am Spieltisch. Für damalige Verhältnisse war Kinsky eine alte Jungfer von 30 Jahren, die nichts Großes mehr vom Leben erwarten konnte. So trat sie in den Haushalt Carl von Suttners als Gesellschafterin der vier Töchter ein und lernte Arthur Gundaccar von Suttner kennen, der sieben Jahre jünger war als sie. Als ihre Beziehung bekannt wurde, musste Kinsky die Stellung aufgeben. Arthurs Mutter vermittelte ihr den Kontakt zu Alfred Nobel, der sie in Paris als Privatsekretärin beschäftigen wollte. Dort blieb sie aber nur zwei Wochen. 1876 heiratete sie Arthur von Suttner heimlich und floh mit ihm in den Kaukasus. Dort erlebte sie den Russisch-Türkischen Krieg aus nächster Nähe.
Arthur sandte Korrespondentenberichte an Zeitungen. Bertha verfasste erfolgreich Trivialliteratur. Ihre Romane und Erzählungen handelten von den Träumen ihrer Kindheit, also von der Liebe zwischen Adeligen und Angehörigen niederer Stände. 1885 kehrte das Ehepaar nach Wien zurück. Geprägt von den Büchern Émile Zolas wandte sich Bertha von Suttner nunmehr immer stärker sozialen und politischen Problemen zu. In ihrem 1886 vorgelegten Roman „High Life“, einer Abrechnung mit dem Adel, hob sie die freie Entscheidungskraft des Menschen hervor. Der 1888 erschienener Roman „Das Maschinenzeitalter“ beschäftigte sich mit der Rüstung und dem übertriebenen Nationalismus der Epoche. 1889 trug sie sich dann endgültig in die Annalen der politischen Literatur ein, als ihr Roman „Die Waffen nieder!“ erschien. Das Buch schilderte die Biographie einer Frau, die in vier Kriegen zwei Ehemänner und einen Sohn verliert, und wurde in zwölf Sprachen übersetzt. Bis zur Vollendung ihres Lebens widmete sich Suttner fortan dem Kampf gegen Krieg und Militarismus.
1891 gründete sie die Österreichische Friedensgesellschaft, die heute ihren Namen trägt. Im Folgejahr erschien die erste Ausgabe der Monatszeitschrift „Die Waffen nieder!“, die Suttner gemeinsam mit Alfred Hermann Fried, Friedensnobelpreis 1911, herausgab. 1892, 1894 und 1896 nahm sie an den Friedenkongressen in Bern, Antwerpen und Budapest teil. Den großen Friedenskongress von 1899 in Haag organisierte sie selbst. Auf ihr wurden die Ideen eines internationalen Schiedsgerichtes und einer Landkriegsordnung erstmals formuliert. Bis zur Umsetzung vergingen indes noch zahlreiche Jahre.
Zu den wichtigsten Stützen Suttners gehörte Alfred Nobel. Kurz nach ihrer Rückkehr nach Europa hatte sie 1886 den Kontakt neu geknüpft. In der kommenden Zeit trug Nobel finanziell stark zum Engagement Suttners bei. Dass sie wesentlich zu seinem Denken beigetragen habe, gehört aber ins Reich der Legenden. Schon lange vor 1876 hatte sich Nobel mit der Frage beschäftigt, wie sich der Frieden sichern lasse. Allerdings vertrat er anders als Suttner die Auffassung, dass Abschreckung wirkungsvoller sei als Schlichtung und Verhandlungen. Suttner bestärkte Nobel in seinem Vorhaben, testamentarisch die Friedensbewegung zu berücksichtigen, war allerdings eher enttäuscht, als sie nach Nobels Ableben erfuhr, dass er gleich fünf Preise gestiftet hatte: für Frieden, aber auch für Literatur, Physiologie oder Medizin, Chemie und Physik.
Viele rechneten damit, dass der erste Friedensnobelpreis an Bertha von Suttner gehen würde. Das Nobelkomitee des Osloer Storting verlieh ihn aber 1901 Henri Dunant und Frédéric Passy. Erst 1905 erhielt Suttner den Preis. In ihrer Dankesrede stellte sie enttäuscht fest, dass Säbelrasseln auch weiterhin alle Friedensappelle übertöne: „Festungen werden gebaut, Unterseeboote fabriziert, ganze Strecken unterminiert, kriegstüchtige Luftschiffe erprobt für das demnächstige Losschlagen.“ Das Ende der Bismarck’schen Weltordnung mitzuerleben, blieb ihr glücklicherweise erspart. Am 21. Juni 1914, kurz vor Kriegsbeginn, verstarb die Pazifistin in Wien.