„Gebt ihr bald Ruhe, ihr Nutten aus dem Sechzehnten?“
„Mit Djagilew, Nijinsky, Strawinsky, Ravel, Werth, Mme Edwards, Gide, Bakst usw. zu Larue, wo allgemein die Ansicht herrschte, daß es morgen Abend bei der Premiere einen Skandal geben würde.“
Harry Graf Kessler sollte recht behalten. Am 28. Mai 1913 hatte der Publizist, Diplomat, Mäzen und Kunstsammler einer ruhig verlaufenen Generalprobe beigewohnt. Auch zahlreiche Kritiker sowie weitere Künstler saßen im Publikum. Tags drauf kam es im Pariser Théâtre des Champs-Élysées zum größten Musikskandal des Jahres, ja, vielleicht sogar der Epoche.
Unter der Leitung Pierre Monteux‘ gab das Orchester Igor Fjodorovitsch Stravinskis Ballett „La sacre du printemps“ – Das Frühlingsopfer. Die Choreografie besorgte niemand Geringeres als Vaslav Nijinsky, einer der bedeutendsten Tänzer des 20. Jahrhunderts, wenn nicht gar, wie viele meinen, der wichtigste. Schon beim Fagottsolo zum Anfang soll es im Publikum unruhig gewesen sein. Als dann der Vorhang aufgezogen wurde, brach der Tumult los. Vermutlich brachte Florent Schmitt das Fass zum Überlaufen. Der elsässische Komponist und Bewunderer Stravinskis rief, an die Besucher aus dem 16. Arrondissement, das Viertel der Reichen, gerichtet: „Gebt ihr bald Ruhe, ihr Nutten aus dem Sechzehnten?“
In den folgenden Minuten soll es nicht bei verbalen Entgleisungen geblieben sein. Sogar von Duellforderungen ist in Überlieferungen die Rede. Bemerkenswerterweise finden sich in der Pariser Tagespresse keine größeren Hinweise auf den „Höllenlärm“, von dem Kessler in seinem Tagebuch schrieb. Möglich ist allerdings, dass die Kritiker ihre Artikel bereits nach der Generalprobe geschrieben hatten. Darauf deutet die vor allem musikalische Argumentation hin, mit der die professionellen Hörer Stravinskis Werk zum Teil vernichtend bewerteten. Auch Monteux war von dem Ballett alles andere als angetan, als ihm Stravinski Auszüge auf dem Klavier vorgespielt hatte. Ebenso wenig überzeugt soll sich Claude Debussy gezeigt haben.
Die Behauptung, die Polizei habe während der Uraufführung eingegriffen, lässt sich nicht belegen, da die Akten verschwunden sind. Stravinski selbst brachte in Aufzeichnungen seine Bewunderung für Monteux zum Ausdruck, dem er „Nerven wie ein Krokodil“ bescheinigte. „Es ist für ich immer noch fast unglaublich, dass er das Orchester wirklich bis zum Ende durchbrachte.“ Auch Nijinsky und die Tänzer zeigten sich von den Reaktionen im Publikum unbeeindruckt. Vielleicht war am Vorabend des Ersten Weltkrieges auch einfach die Zeit reif für einen veritablen Skandal. Kurz zuvor hatten bereits in Wien Alban Bergs „Lieder mit Orchester“ gewisse Teile des Publikums dermaßen erschüttert, dass Bergs Mentor Arnold Schönberg Ohrfeigen hinnehmen musste.
Stravinski zählte nach dem Skandal endgültig zu den etablierten Tonsetzern. Schon sein „Chopin-Ballett“ und die Ballette „Der Feuervogel“ und „Petruschka“ hatten Aufsehen erregt und den Namen des Russen bekannt gemacht. Dem Frühlingsopfer-Skandal räumten sogar die Gazetten in den Vereinigten Staaten Raum ein, die erstmals über Stravinski schrieben.
Ungeachtet aller Aufregungen zählt „La sacre du printemps“ zu den richtungsweisenden Werken des 20. Jahrhunderts. Wohl niemals zuvor hatte ein Komponist eine dermaßen komplexe Rhythmik geschaffen, eine Aneinanderreihung schneller und schnellster Tonfolgen wie im Schlussteil des Balletts fand sich in den Annalen der Musikgeschichte höchst selten.
Schnell etablierte sich „La sacre du printemps“ im Konzertleben. Praktisch jeder Dirigent, jedes Orchester von Rang spielte im Laufe der Jahrzehnte Stravinskis Ballett ein. Ein Schallplattenhersteller dokumentierte die Bedeutung der rund 30-minütigen Komposition jüngst, indem er eine Packung mit zehn CD offerierte. Jede präsentierte eine Aufnahme, die älteste von 1929/30, die jüngste von 1996. Zweimal dirigierte Igor Stravinski höchstselbst sein Frühlingsopfer, 1940 und 1960. Auch Pierre Monteux spielte das Ballett ein, allerdings erst 1956. Von der Uraufführung gibt es leider keine Aufnahme.