Versteckte Ideen und Gedanken
Das Briefmarkenalbum auf dem Tisch, den Katalog daneben, ein Klavierkonzert oder eine Sinfonie von Johannes Brahms aufgelegt – es gibt wohl kaum etwas Schöneres. Sicher, Felix Mendelssohn-Bartholdy und Franz Liszt, Franz Berwald und Fryderyk Chopin hinterließen ebenso eindrucksvolle Werke wie Brahms. Man muss Brahms auch nicht unbedingt als legitimen Nachfolger Ludwig van Beethovens betrachten, um seine Schöpfungen zu schätzen.
Im Olymp sitzt er mit den Großen an einem Tisch, von Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel über Wolfgang Amadeus Mozart und Joseph Haydn bis Gustav Mahler und Dmitri Schostakowitsch. Ohnehin legt das Bildungsbürgertum zu viel Wert auf Debatten über den einzig richtigen Weg in Musik, Literatur und Bildender Kunst. Die Vielfalt macht’s, und daher können heute Kompositionen Brahms’ und Anton Bruckners in ein und demselben Konzert erklingen, ohne die Aufführenden bloßzustellen. Im 19. Jahrhundert wäre dies schwer vorstellbar gewesen.
Damals tobte ein heftiger Richtungsstreit, in dessen Mittelpunkt neben Brahms Richard Wagner stand. Beide kamen sich zwar kaum in die Quere, da Wagner vornehmlich Opern schrieb, derweil Brahms nicht eine einzige Bühnenmusik vorlegte. Dies hielt ihre Anhänger aber nicht davon ab, sehr eindeutig Partei zu ergreifen. Mitunter war dies menschlich verständlich. So avancierte Hans von Bülow vom Anhänger zum Gegner Wagners, nachdem Wagner mit Cosima von Bülow, der Tochter Liszts, durchgebrannt war. Eduard Hanslick, einer der einflussreichsten Musikkritiker Wiens, gehörte wohl in erster Linie zu jenen, die ihren eigenen Geschmack für allgemeinverbindlich erklären wollen – ein Phänomen, das wir heute beispielsweise im Internet gut beobachten können. Brahms positionierte sich im Streit des 19. Jahrhunderts auf Seiten der Traditionalisten, beteiligte sich an den Diskussionen aber nur selten. Zu Wagners Werk sind kaum Äußerungen von ihm überliefert, während umgekehrt Wagner wiederholt abfällig über Brahms’ Kompositionen geschrieben hat. Allerdings war Wagner ohnehin dem Manifestieren mehr zugeneigt als Brahms.
Brahms ließ lieber seine Musik sprechen, machte es den Hörern seiner Zeit aber keineswegs einfach. Sein Konservativismus galt bei Licht besehen den traditionellen Formen und Techniken. Ja, er integrierte in sein Werk sogar mittelalterliche Kirchentonarten, die schon zu Zeiten Bachs bestenfalls als Verneigung vor dem Schaffen früherer Tonsetzer eingesetzt wurden.
Brahms’ Klangbilder entsprachen indessen nur bei oberflächlichem Hören den Traditionen. Geschickt vermochte er es, neue Ideen und Gedanken versteckt in seine Werke einzuarbeiten, mitunter so geschickt, dass es selbst seine erklärten Anhänger nicht so recht zu erkennen vermochten. Diese sprachen dann Brahms eine besondere intellektuelle Tiefe zu. Vielleicht trug auch diese Art der Rezeption dazu bei, dass Brahms zu Lebzeiten zwar äußerst erfolgreich war, viele seiner Musik aber zugleich reserviert gegenüberstanden. Manches Werk, insbesondere seine Klavierkonzerte, galt ferner auch professionellen Musikern als schwer oder gar nicht spielbar. Anfangs beäugten die Musikverleger denn auch Brahms’ Kompositionen kritisch. Selbst ein begnadeter Pianist, überschätzte er womöglich die Fähigkeiten seiner Zeitgenossen ein wenig.
Großen Anklang fanden vor allem seine ab 1869 in unterschiedlichen Fassungen veröffentlichten „Ungarischen Tänze“. Kritiker bewerteten sie als oberflächlich und nicht Brahms’ sonstigem Schaffen angemessen. Ihre ersten Aufführungen gelten manchem als die einzigen Musikskandale in Brahms’ Leben. Mit dem 1868 entstandenen „Deutschen Requiem“ zeigte sich Brahms auf der Höhe der Zeit, war doch kurz zuvor der Norddeutsche Bund als Vorläufer eines einheitlichen Deutschland entstanden. Das Requiem in deutscher anstatt lateinischer Sprache wurde denn auch frenetisch bejubelt.
Über die Debatten jener Jahre ist die Zeit ebenso hinweggegangen wie über Bülows These, Brahms’ erste Sinfonie sei eigentlich Beethovens zehnte. So unüberhörbar die Zitate im vierten Satz auch sind, sprechen gerade sie gegen Bülow. Eindeutig wollte Brahms mit den Takten Beethoven die Reverenz erweisen, nicht mehr und nicht weniger. Aussagen, er sei „der Erbe Beethovens“, so der Wiener Violinist Josef Hellmesberger senior, lehnte er rundweg ab, allein schon weil er fürchtete, den damit verbundenen Erwartungen nicht gerecht werden zu können.
Sein eigenes Schaffen sah Brahms höchst kritisch, sehr zum Leidwesen der Verleger, die manches Mal lange warten mussten, bis Brahms ein Werk zur Veröffentlichung freigab. Trotz seiner großen Erfolge bewegte er sich in der Öffentlichkeit vorsichtig; aus vielen Fotos – seinerzeit waren sie wegen der vergleichsweise langen Verschlusszeiten gestellt – spricht sogar eine gewisse Verschlossenheit gegenüber anderen.
Heute vor 180 Jahren kam Johannes Brahms in Hamburg auf die Welt. Er starb am 3. April 1897 in Wien.
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