Einzig wahre Form
„Der Geist der freien Genossenschaft ist der Geist der modernen Gesellschaft.“
Theorie und Praxis – in Deutschland bilden sie oftmals ein Gegensatzpaar. Insbesondere in der Wirtschaft und im Sozialwesen gelingt es eher selten, sie zu vereinen. Da stehen auf der einen Seite jene, denen jeder Gedanke an eine Verpflichtung der Unternehmen zum Wohle aller zutiefst suspekt ist; sie streben 20 und mehr Prozent Rendite an, halten Millionengehälter für Führungskräfte für ebenso selbstverständlich wie Hungerlöhne für einfache Arbeitnehmer. Ihnen gegenüber stehen jene, die lieber von Klassenkämpfen und ähnlichem schwadronieren, als Leistung und Engagement einzufordern, die stets neue Ideen zur Umverteilung entwickeln und genauestens wissen, was andere für sie tun könnten.
Theorie und Praxis haben es hierzulande aber auch deswegen schwer, weil die Ebenen vielfach streng voneinander getrennt agieren. Mancher Denker zog fulminante Luftschlösser hoch, die beim Einsturz dann Tausende unter sich begruben. Andere schufen Großes, das schnell wieder zerfiel, da es an der nötigen Fundierung mangelte.
Eine der wenigen Erfolgsgeschichten, in denen Theorie und Praxis zueinanderfanden, schrieb das Genossenschaftswesen. Am Markt agieren die genossenschaftlichen Unternehmen auf dieselbe Weise wie Personen- und Kapitalgesellschaften. Genossenschaften arbeiten, wie es die marktwirtschaftliche Ordnung gebietet, effizienz- und gewinnorientiert. Da sie eine Vielzahl Gesellschafter haben, da kein Gesellschafter die anderen dominiert, da vielfach die Mitarbeiter und sogar die Kunden zu den Gesellschaftern gehören, wirken die Genossenschaften nicht für Einzelne, sondern für das Gemeinwesen. Schließlich zieht die Gesellschafterstruktur eine einmalige Basisnähe nach sich. Den Verantwortlichen der Genossenschaften kann niemand ein X für ein U vormachen. Liest man Bürgertum im Sinne von Citoyen, stellen Genossenschaften die einzig wahre Form des bürgerlichen Unternehmertums dar.
In Deutschland stehen zwei Männer für das Genossenschaftswesen: Friedrich Wilhelm Raiffeisen, dessen Namen noch heute manche Bank und mancher landwirtschaftliche Betrieb führt, und Hermann Schulze-Delitzsch. Auf den Juristen geht das bis in unsere Tage geltende Genossenschaftsrecht zurück.
Geboren am 29. August 1908 in Delitzsch – den Namen der Stadt hängte er dem Zunamen an, als er 1848 in die Preußische Nationalversammlung einzog – erfuhr er durch seine Tätigkeit als Patrimonialrichter über mehrere Rittergutsbezirke von den Schwierigkeiten, welche die Industrialisierung kleinen Handwerkern und Manufakturen bereitete. Zunächst engagierte er sich vor allem auf sozialem Gebiet und zählte 1846 zu den Mitbegründern eines Hilfskomitees, das nach einer Missernte Getreide beschaffte und verteilte.
Als Abgeordneter befasste er sich dann intensiv mit der Lage jener Schichten, denen Karl Marx nur den baldigen Abstieg ins Proletariat voraussagen wollte. Schulze-Delitzsch sann dagegen auf Abhilfe und erkannte, dass die kleinen Unternehmen der Industrie Paroli bieten konnten, wenn sie sich genossenschaftlich zusammenschlossen. Das Scheitern der Revolution von 1848 zwang ihn, sich auch persönlich neu zu orientieren. Die preußische Regierung sah in Liberalen wie ihm eine ähnliche Gefahr für den Staat wie fünfzig Jahre später in den Sozialdemokraten. Schulze-Delitzsch schied daher aus dem Staatdienst aus und initiierte 1849 die Schuhmachergenossenschaft in Delitzsch. In den Folgejahren wirkte er an der Gründung verschiedener Spar- und Darlehns-, Produktions- und Handelsvereine mit. Konsequent setzte er auf Selbsthilfe und lehnte jede staatliche Unterstützung ab, womit er in Gegensatz zu Raiffeisen und Ferdinand Lassalle geriet, dem Mitbegründer der Sozialdemokratie. Noch arbeiteten die Genossenschaften aber auf einer rechtlich unsicheren Basis. Ein Genossenschaftsrecht gab es nicht, die einzelnen Vereine nutzten Rechtskonstruktionen, die eigentlich für andere Vorhaben geschaffen worden waren.
Schulze-Delitzsch entschied daher, sich erneut politisch zu engagieren. 1859 zog er in das Preußische Abgeordnetenhaus ein und zählte zwei Jahre später zu den Mitbegründern der liberalen Deutschen Fortschrittspartei, die in der Folgezeit in Opposition zu Staatsminister Otto von Bismarck stehen sollte. Trotz der Gegnerschaft gelang es Schulze-Delitzsch aber, sein Vorhaben durchzusetzen. 1866 legte er im Abgeordnetenhaus einen Gesetzesentwurf vor, der nach seiner Verabschiedung ab 1869 im Norddeutschen Bund galt und 1871 für das Reich übernommen wurde. Ein eigenes Reichsgesetz trat erst 1889 in Kraft. Auch seine Formulierungen stammten weitgehend von Schulze-Delitzsch; der Reichstag nahm nur wenige Änderungen vor.
Hermann Schulze-Delitzsch durfte dies nicht mehr erleben. Er verstarb am 29. April 1883, heute vor 130 Jahren. Da die von ihm mitbegründeten Spar- und Darlehnsgenossenschaften überwiegend den Titel „Volksbank“ annahmen, ist sein Name weniger bekannt als der Raiffeisens. Beide Männer vereinten Theorie und Praxis. Ihre Spar- und Darlehnsgenossenschaften sind heute in den Volks- und Raiffeisenbanken vereint.
Mittelamerika 2024 (ÜK 1.2)
ISBN: 978-3-95402-494-0
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