Unsichtbares, reaktionsfreudiges Gas
Gut 100 Jahre lang geisterte ein seltsamer Stoff durch die Schriften der Naturwissenschaftler. Johann Joachim Becher und Georg Ernst Stahl hatten um 1670 postuliert, bei der Verbrennung von Stoffen entweiche eine unsichtbare Substanz, die Stahl „Phlogiston“ nannte. Die These machte schnell die Runde, ließ sich mit ihr doch vieles erklären. Noch mehr Phänomene aber sprachen gegen die Existenz des Phlogistons, doch es kam, was kommen musste: Die Befürworter des Phlogistons dehnten ihre Theorie immer weiter aus und schufen manche absurd anmutende Erklärung, behaupteten zum Beispiel, Phlogiston habe eine negative Masse.
100 Jahre später wies dann Antoine Laurent de Lavoisier die Oxidation nach. Allerdings konnte der französische Chemiker die beteiligten Stoffe nicht sofort eindeutig bezeichnen. Daher vergingen rund 20 Jahre, bis sich die Erkenntnis allgemein durchsetzte. Daran hatte der britische Wissenschaftler Joseph Priestley großen Anteil.
Priestley erblickte gemäß Julianischem Kalender am 13. März, nach Gregorianischem Kalender am 24. März 1733 das Licht der Welt. Er studierte Theologie und alte Sprachen und wirkte ab 1755 als Pfarrer. Spätestens 1758 begann er mit physikalischen Experimenten. Seine erste Veröffentlichung behandelte aber die Sprache. „Rudiments of English Grammar“ erschien 1761, dem Jahr, in dem Priestley als Lehrer an eine private Handelsschule wechselte. Das Lehrbuch überdauerte seinen Verfasser, der in der Folgezeit weitere Werke zu Sprache und Geschichte vorlegte. Großen Wert legte er auf die praktische Ausbildung.
1763 nahm Priestley seine chemischen Studien auf. Regelmäßig traf er in London führende Wissenschaftler seiner Zeit. Ab 1766 Mitglied der Royal Society, publizierte er im Folgejahr „The History and Present State of Electricity“. Als erster beschrieb er darin, dass Kohle elektrisch leitend sei. Zudem postulierte er einen noch nicht im Detail erläuterten Zusammenhang zwischen elektrischen und chemischen Vorgängen. Wenig später legte er dann eine Studie zu Gasen vor, wobei sein besonderes Interesse zunächst den optischen Vorgängen galt. Das Buch „The History and Present State of Discoveries Relating to Vision, Light and Colour“ verschaffte ihm eine Anstellung als Bibliothekar und Privatlehrer im Haus des Earl of Shelbourne. Ab 1774 erschienen seine wichtigsten Veröffentlichungen, die fünfbändigen „Experiments and Observations on different kinds of Air“.
Im Vorgriff darauf veröffentlichte er am 1. August 1774 einen Zeitschriftenartikel. Darin beschrieb er, dass bei der Erhitzung von Quecksilber(II)-oxid – rotes Präzipitat – reines Quecksilber und ein unsichtbares, reaktionsfreudiges Gas entstehen. Allerdings konnte er sich nicht von der bestehenden Dogmatik lösen und nannte das Gas „dephlogisticated air“; Priestley kam nicht in den Sinn, ein bislang unbekanntes Gas beschrieben zu haben.
Daher gilt heute der deutsch-schwedische Chemiker Carl Wilhelm Scheele als Entdecker des Sauerstoffs. Gewissermaßen zu Recht, hatte er doch bereits 1772/73 seine bahnbrechenden Untersuchungen vorgenommen, also mutmaßlich vor Priestley. Allerdings veröffentlichte Scheele seine Erkenntnisse erst 1777 im Buch „Chemische Abhandlung von der Luft und dem Feuer“. Da in der Wissenschaft Publikationen einen hohen Rang einnehmen, steht heute Priestley als Entdecker des Sauerstoffs gleichberechtigt neben Scheele in den Annalen, obgleich Scheeles Bekanntheit größer ist. Das ist zum einen auf die Entdeckung weiterer Elemente durch Scheele zurückzuführen, zum anderen auf seinen Mut, widerlegte Thesen auch ad acta zu legen. Priestley dagegen blieb bis an sein Lebensende ein Anhänger der Phlogiston-Theorie.
Selbst eine weitere Erkenntnis half ihm nicht auf die Sprünge. Dass Menschen und Tiere Kohlendioxid ausatmen, während Pflanzen Sauerstoff erzeugen, belegte er in Versuchen, die als „Priestley-Versuche“ in die Geschichte eingingen. So platzierte er in einem hermetisch abgeschlossenen Behältnis zunächst eine Maus, dann eine Pflanze. Nach kurzer Zeit starb die Maus, ging die Pflanze ein. Befanden sich beide in dem Behältnis, lebten sie länger als allein. Priestley erkannte den Zusammenhang, sprach aber stur weiterhin von Phlogiston und dephlogisticated air. Lavoisier dagegen verstand sofort die Bedeutung von Priestleys Forschungen. Neben der Vollendung der Oxidationslehre gelang es ihm, daraus eine Wärmetheorie und das Gesetz von der Erhaltung der Masse abzuleiten – ein weiterer Beleg gegen die Existenz des Phlogistons.
Vielleicht lässt sich Priestleys Verhalten mit den religiösen und politischen Auseinandersetzungen erklären, die er in jenen Jahren führte. In beiden Bereichen bekleidete er Minderheitenpositionen. Die Lehre der jungfräulichen Geburt lehnte er ebenso ab wie religiös motivierte Strafgesetze. Geistliche sollten seiner Auffassung nach zudem keine Ämter in der Politik übernehmen. Dass er damit in Konflikt mit der anglikanischen Kirche geriet, ist nachvollziehbar. Politisch machte er sich unbeliebt, indem er sich für die Menschenrechte und die Abschaffung des Sklavenhandels einsetzte, ab 1789 zudem die Ideale der Französischen Revolution verfocht. Bereits vier Jahre zuvor hatte er erleben müssen, dass eines seiner Bücher als häretisch öffentlich verbrannt wurde. 1791 steckte eine aufgewiegelte Volksmenge sein Haus in Brand.
Drei Jahre später emigrierte Joseph Priestley in die Vereinigten Staaten. Dort wirkte er als freier Schriftsteller und verkehrte mit den führenden Gelehrten und Vertretern von Staat und Kirche. Zeitlebens ein zutiefst gläubiger Mann bekannte er sich, wie schon zuletzt in Großbritannien, zum Unitarismus und trat als Prediger auf. Obgleich er alle bedeutenden Entdeckungen in England gemacht hatte, genießt er heute in den USA mehr Ruhm als in seiner ursprünglichen Heimat. Vielen gilt er als amerikanischer oder wenigstens britisch-amerikanischer Wissenschaftler, mochte er auch nur rund zehn Jahre seines Lebens in den Staaten verbracht haben. Am 6. Februar 1804 verstarb Joseph Priestley in Northumberland, Pennsylvania. Bis an sein Lebensende sah er sich selbst in erster Linie als Theologe, der nur nebenher naturwissenschaftlich forschte.