Bürgerlicher Revolutionär
In wenigen Wochen gedenken wir des 150. Gründungstages der ältesten bis heute bestehenden Partei in Deutschland. Zum Jubiläum des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, der unter Führung des Juristen und Journalisten Ferdinand Lassalle am 23. Mai 1863 ins Leben trat, erscheint am 4. April eine Sondermarke zu 1,45 Euro.
Die Initiatoren des ADAV kamen überwiegend aus bürgerlichen Kreisen.Zunächst hatten sie Kontakte zum Deutschen Nationalverein Hermann Schulze-Delitzschs geknüpft. Dieser sah aber die Zeit für die Organisation der Arbeiter noch nicht gekommen. Wie sehr er irrte, kann man auch daran erkennen, dass dem ADAV im eigenen Lager bald Konkurrenz erwuchs. Für die Sozialdemokratische Arbeiterpartei stehen die Namen August Bebel und Wilhelm Liebknecht, Ersterer ein selbstständiger Drechslermeister, Letzterer Journalist und Lehrer. Die SDAP folgte einer radikaleren Programmatik als der ADAV, der Programmatik zweier bürgerlicher Revolutionäre, die im britischen Exil saßen.
Karl Marx war promovierter Philosoph und Publizist, sein engster Weggefährte, Friedrich Engels, Fabrikant und – seine heutigen Anhänger hören dies eher ungern – höchst erfolgreicher Börsenspekulant. Beide verfügten über großes rhetorisches Talent und Charisma, sodass es ihnen gelang, sich an die Spitze einer Bewegung zu stellen, ohne ihren durchaus bourgeoisen Lebensstil ändern zu müssen. Dank ihrer Fähigkeit zur Zuspitzung konnten sie sogar darüber hinwegtäuschen, dass ihr Verein, der Bund der Kommunisten, nie mehr als rund 500 Mitglieder zählte – in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden, Schweden, der Schweiz und den Vereinigten Staaten zusammengenommen. „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus“ – der Einleitungssatz aus dem „Kommunistischen Manifest“ dürfte durchaus Chancen haben, einen Spitzenplatz in der Weltrangliste der Hochstapelei zu erreichen.
Die Zeitgenossen scheinen dies gespürt zu haben. Die meisten Arbeitervereine, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden, hielten Marx und Engels auf Distanz und pflegten von Anbeginn einen Reformkurs. Einige Gruppen, unter anderem die SDAP, folgte den beiden Denkern rhetorisch, handelten indessen pragmatisch. Karl Marx, der heute vor 130 Jahren verstarb, zählt zwar ebenso wie Friedrich Engels weiterhin zu den Säulenheiligen der Arbeiterbewegung, wird in der SPD ebenso geehrt wie in den Gewerkschaften. Beeinflusst hat er aber vor allem die Theorie. Die praktische Politik sah stets anders aus, mochten auch viele Mitglieder und Anhänger des Öfteren schwer an der eigenen Partei leiden.
Auf einem anderen Blatt steht, dass die Zeit reif war für die Organisation der unteren Schichten. Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden unzählige sozialistische Organisationen mit recht ähnlicher Programmatik. Die einen entwickelten die Theorien des Christentums weiter, die anderen sahen in den Werken der Humanisten die Basis für ihr Handeln. Schaut man in die Geschichte der industrialisierten Länder, dann stellt man fest, dass die sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien überall denselben Weg beschritten, den Weg der vorsichtigen Veränderung, das Schritt-für-Schritt-Prinzip. Die Verantwortlichen wussten nämlich, dass die Proletarier durchaus mehr zu verlieren hatten als die unsichtbaren Ketten.
Deutschland 2024/2025
ISBN: 978-3-95402-489-6
Preis: 79,00 €
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