500 Jahre Luzerner Chronik
Heute vor 500 Jahren überreichte der Chronist Diebold Schilling der Jüngere in Luzern dem Rat der Stadt seine Chronik. Auf 680 Seiten bietet dieses Meisterwerk der spätmittelalterlichen Buchkunst ein farbenprächtiges Panorama des zeitgenössischen Lebens. Die 443 detaillierten Bilderbogen vermitteln dem Betrachter einen wirklichkeitsnahen Einblick in Mode, Architektur und Geschichte der zentralschweizerischen Stadt und der eidgenössischen Lebenswelt. Das Werk wurde nicht gedruckt, sondern als echtes Manuskript handgeschrieben und illustriert.
Derartige Chroniken hatten in der Schweiz eine langjährige Tradition. Sie zeugten vom aufblühenden Reichtum und Selbstbewusstein des eidgenössischen Bürgertums. Bereits in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts hatte sich Luzern mit den drei benachbarten Waldstätten Uri, Schwyz und Unterwalden – sie waren die Genossen des legendären Rütlischwurs – verbündet, um sich gegen Einfluss und Ansprüche mächtiger Nachbarn zu behaupten. Die bis dahin im provinziellen Halbdunkel der Geschichte ruhenden Alpenbewohner sollten in den folgenden 150 Jahren ein ums andere Mal die europäische Großmachtpolitik durchkreuzen und selbst schließlich zu einem wichtigen Machtfaktor Mitteleuropas werden.
Nach erfolgreicher Verteidigung ihres Gebietes gegen die „bösen“ Vögte der Habsburger hatte sich der Bund der Eidgenossen, um die großen Städte Bern und Zürich erweitert, zunehmend selbstbewusst gezeigt. Mit den für ihre Zeit spektakulären Siegen der Schweizer Fußsoldaten gegen die hochgerüsteten und modernen Armeen Karls des Kühnen in den sogenannten „Burgunderkriegen“ von 1474 bis 1477 erlangten sie den Ruf der Unbesiegbarkeit. Nachdem auch die schwäbischen Herren peinliche Niederlagen gegen sie erlitten hatten, wagte es so schnell kein Fürst mehr, den Schweizern die Stirn zu bieten. Vielmehr zog man es vor, eidgenössische „Reisläufer“ gegen bare Münze für das eigene Heer anzuwerben. Bald kämpften Schweizer Lanzen- und Helmbartenträger in allen mitteleuropäischen Heeren. In den Heimatstädte florierte unterdessen der Handel und die heimkehrenden Kriegsknechte ließen einen steten Strom an Beute und Soldzahlungen in die Gemeinschaft einfließen. 1499 erkannte Kaiser Maximilian schließlich die faktische Unabhängigkeit der Eidgenossen an.
Vor diesem Hintergrund waren Chroniken, welche den ruhmreichen Aufstieg der eigenen Stadt oder des Kantons herausstellten, in gewisser Hinsicht ein Statussymbol. Man spricht daher auch von den „Schweizer Bilderchroniken“ als einen mehr oder weniger geschlossenen Korpus prächtiger Bildbände. Es gibt etwa die Eidgenössische Chronik, die in Zürich verwahrte Tschachtlanchronik, die Berner Chronik und die inhaltlich recht spezifische Burgunderchronik, die sich mit jenen glorreichen fünf Jahren im Kampf gegen Karl den Kühnen befasste. Sie und die Berner Chronik stammten aus der Hand Diebold Schillings des Älteren, dem Onkel des Verfasser der Luzerner Chronik. Während das ältere Werk aus Bern noch Sympathien für die Franzosen zum Ausdruck brachte – der Auftrag war 1474 erteilt worden, also im ersten Kriegsjahr gegen die auch mit Frankreich verfeindeten Burgunder, ließ die jüngere Luzerner Chronik einen Schwenk zugunsten des Kaisers erkennen. Somit schlugen sich auch aktuelle politische Wendungen in diesen Chroniken nieder. Ganz mittelalterlich, wurden bei der Erstellung der Werke in der Regel auch ältere Texte komplett in die Neufassung integriert, überarbeitet oder dem eigenen Sinne angepasst. Das galt nicht als unschicklich, Urheberrechte waren unbekannt.
Diebold Schilling der Jüngere bediente sich entsprechend bei der Zusammenstellung des Textkörpers der Vorgängerchronik Petermann Etterlins. Auch stammt ein Teil der Illustrationen aus der Hand eines unbekannten Partners. Doch mit der Übergabe der Chronik am 15. Januar 1513 an den Rat der Stadt Luzerns wurden immerhin dessen Werke für nachfolgende Generationen bewahrt, auch wenn sein Name vergessen ist. Beim Vergleich der Schweizer Pro Patria-Marke von 1989 mit dem Originalbild kann man erkennen, dass der moderne Markengrafiker sich einige Freiheiten erlaubt hat. Die veränderte Farbgebung ist sicherlich der Gestaltung der Serie (MiNr. 1393 bis 1396) geschuldet. Doch warum der Künstler dem mittleren Ratsherren einen Fuß „geschenkt“ hat, kann er vermutlich nur selbst erklären.
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