„Überhaupt keiner, ich bin Anarchist“
„Der dritte Preisträger, ein gewisser Ravel, scheint mir das Zeug zu einer ernsthaften Karriere zu haben.“ Niemand anderes als Camille Saint-Saëns sprach klar aus, wer das größte Potential der Teilnehmer am „Prix de Rome“ 1901 hatte. Allerdings musste sich Joseph-Maurice Ravel mit dem zweiten Preis begnügen, sich diesen zudem mit einem weiteren Komponisten teilen. Dieser ist ebenso wie der Sieger, wie auch die meisten Gewinner der vorherigen und späteren Wettbewerbe weitgehend in Vergessenheit geraten; Musikwissenschaftler wissen manchen Namen noch zuzuordnen. Maurice Ravel, geboren am 7. März 1875, setzte sich dagegen durch und zählt heute zu den bedeutendsten französischen Tonsetzern der Geschichte.
Seinen „Boléro“ kennt wohl ein jeder. Inwiefern die Geschichte stimmt, Ravel habe gewettet, ein Stück mit durchgehendem Rhythmus zu komponieren, sei einmal dahingestellt. Zweifellos belegt ist, dass die Tänzerin Ida Rubinstein ihn inspiriert hatte. Rubinstein tanzte denn auch die Uraufführung.
Eindeutig wahr ist eine andere Geschichte, eine tragische. Der Pianist Paul Wittgenstein hatte im Ersten Weltkrieg den rechten Arm verloren. Um seine Laufbahn dennoch fortsetzen zu können, beauftragte er verschiedene Komponisten, Werke für die linke Hand zu schreiben. Ravels Klavierkonzert für die linke Hand gehört zu den beeindruckendsten Klavierkonzerten des 20. Jahrhunderts, ja, der Klavierliteratur überhaupt. Wittgenstein bearbeitete das Konzert für zwei Klaviere, stieß damit aber auf Ravels scharfen Widerspruch, da nicht im Ursprungswerk enthaltene Verzierungen eingearbeitet waren. Als Wittgenstein sagte, die Interpreten dürften keine Sklaven der Tonsetzer sein, soll Ravel nur „Die Interpreten sind Sklaven!“ geantwortet haben.
Ohnehin ist die Literatur reich an bemerkenswerten Aussagen Ravels. Wie jeder große Komponist musste natürlich auch er sich die Frage gefallen lassen, welcher Schule er angehörte. „Überhaupt keiner, ich bin Anarchist“, lautete Ravels Erklärung, was aber nicht dahingehend zu verstehen ist, dass seine Werke auch nur im Mindesten anarchistisch klingen. Das blieb späteren Künstlern vorbehalten, deren Schöpfungen harmonisch vielleicht nicht so ganz einprägsam waren. Ravel arbeitete dagegen auf der Basis der klassischen Harmonielehre und der klassischen Orchestration, verweigerte nur den sklavischen Gehorsam gegenüber den Konventionen. Zu recht gilt er heute gemeinsam mit Claude Debussy als wichtigster Vertreter des französischen Impressionismus. Inwiefern er dieser Einschätzung selbst zustimmt hätte, sei aber einmal dahingestellt. Zeitlebens behielt er seinen eigenen Kopf und stieß damit bei Weggefährten nicht immer auf Verständnis.
Über seinen letzten gut zehn Lebensjahren liegt die Tragik unheilbarer Krankheit. Woran er genau litt, konnten die Ärzte damals nicht herausfinden. Sicher ist, dass eine neurologische Erkrankung zum einen Ravels Motorik beeinträchtigte, zum anderen schwere Kopfschmerzen und zeitweise extreme Erschöpfungszustände hervorrief. Nach einer Gehirnoperation, bei der sich der Verdacht auf einen Tumor nicht bestätigt hatte, verstarb Maurice Ravel am 28. Dezember 1937, heute vor 75 Jahren.